Soziologe auf Reisen

Die Geschichte mit den Schuhbändern

Norbert Elias

Ein Soziologe auf Reisen findet es zuweilen schwer, in der Fremde alle die Fragen zu vergessen, mit denen er sich zu Hause beschäftigt. Mich interessieren gewiß auch die Museen, die Schlösser und Tempelruinen, und die Freuden des Badestrandes, der ungewohnten Landschaft und, nicht zu vergessen, die der fremden Restaurants ziehen mich an. Aber da sind immer auch die ungewohnten Menschen. Ich kann mir nicht helfen — am Lido oder in Rom, in Torremolinos, in London, Münster oder Paris fesseln mich immer von neuem die Verschiedenheiten der Menschen, ihres Verhaltens, ihrer Lebensart.

Was tun sie Tag für Tag? Was geht hinter den Stirnen vor? Wie lebt es sich in dem kleinen spanischen Fischerdorf, dem Ursprung von Torremolinos? Was denken sich die freundlichen Einwohner eigentlich, wenn um sie herum die Hotels in die Höhe schießen und die Touristen in hellen Scharen herbeikommen?

Die Geschichte mit den Schuhbändern passierte mir zum erstenmal in Torremolinos. Ich ging am Abend langsam und wohl auch etwas nachdenklich durch die Straße des Fischerdorfes. Es war noch warm. In den kleinen weißen Häusern standen die Türen offen. Auf den Stühlen davor saßen die Mütter und Großmütter. Die Kinder spielten. Man sah die Heiligenbilder in den Zimmern, hörte die Rufe von einem Haus zum ändern. Gruppen von jungen Burschen und jungen Mädchen — noch getrennt — gingen die Straße auf und ab und riefen sich lachend und kichernd allerhand zu. Ich zwischen ihnen. Die lebten in ihrer Welt, ich in meiner. Das ist es also, dachte ich, was der alte Tönnies eine Gemeinschaft nannte, eine geschlossene Gemeinschaft, wo die Individuen eng miteinander verbunden sind — zum Unterschied von der Gesellschaft der großen Städte.

Ich hatte manchmal den Eindruck, die Frauen vor den Türen riefen mir etwas zu. Dann kam ein kleines Mädchen auf mich zu, lachte mich mit schiefem Kopf an. Ich dachte, wie früh die kleinen Mädchen kokettieren können. Doch das Kind hielt sich verschämt die Hände vors Gesicht und rannte wieder zur Mutter zurück. Dann kam ein etwas älteres Mädchen und zeigte auf meine Schuhe. Endlich verstand ich: Am linken Schuh waren die Schuhbänder aufgegangen und schleiften nach. Das passiert mir so oft, daß ich es gar nicht mehr merke. Aber die aufmerksamen Frauen hatten es gesehen, dachten offenbar, der fremde ältere Mann könne stolpern und sich Schaden tun. Beobachtet und ermutigt von Frauen und Männern und Kindern ringsum, bückte ich mich, knüpfte die Schuhbänder sorgfältig in Knoten und Schleife, lachte den freundlichen Gesichtern um mich zu, rief meinen Dank. Dann verebbte der kleine Aufruhr. Das Leben ging weiter. Ganz gewiß, eine Gemeinschaft, sagte ich mir. Niemand ist ein ganz Fremder. Aber das soziologische Gewissen wies mich zurecht: Was weißt du denn, was da alles vor sich geht, wenn du nicht dabei bist?

Am nächsten Tage ließ ich die Schuhbänder absichtlich schleifen, auf der etwas höher gelegenen Straße, wo die Touristen sind. Wie zu erwarten: Niemand sah die Gefahr. Oder genauer gesagt: Bisweilen schien einer der Vorübergehenden die schleifenden Schuhbänder zu bemerken. Nach zwei Stunden gab ich das Experiment auf. Da sieht man den Unterschied, dachte ich — Gemeinschaft und Gesellschaft.

Aber es stimmte nicht. Offenbar liegen die Dinge komplizierter. Das wurde mir klar bei dem nächsten Schuhbandspiel m London. Ich machte den Versuch mehrere Male beim Spaziergang durch Regentstreet und Bondstreet. Das Ergebnis war erstaunlich: Drei Experimente von je drei Stunden Dauer ergaben im Durchschnitt drei aktive Reaktionen von Vorübergehenden pro Experiment. (Man bedenke: in einer großstädtischen Gesellschaft.) Ich wiederholte den Versuch in Paris, das ja übersichtlicher und im Zentrum auch architektonisch einheitlicher ist als London. Aber drei dreistündige Versuche, in die ich schließlich die Boulevards St. Michel und Montparnasse mit einbezog, ergaben nur kümmerliche Ergebnisse: insgesamt zweieinhalb Reaktionen. Ich zählte als halbe die eines Halbstarken, der mir zum Vergnügen seiner Begleiterinnen: "Prenez guarde" ins Ohr brüllte und lachte. Die zwei anderen kamen von Leuten, die in den offenen Cafes auf den Champs-Elysees saßen und das Konmen und Gehen von Aperitifs und flanierenden Menschen genossen.

In England waren es besonders ältere Herren, die mich auf meine Gefahr aufmerksam machten. In Deutschland sahen mich ältere Herren zwar gelegentlich im Vorübergehen an, aber, wie mir schien, etwas verächtlich, wie sich das ja auch recht wohl versteht angesichts einer solchen Unordentlichkeit. Nur die Damen bemühten sich. In der Straßenbahn oder wo immer es war wiesen mich Mädchen und Frauen auf den geöffneten Schuh hin, und in Mittelstädten, etwa in Münster, folgte dann wohl zuweilen auch eine kurze Unterhaltung — zum Unterschied von London, wo Männer und Frauen zwar willig schienen, mich zu warnen, aber mit freundlicher Reserviertheit. In Deutschland erhielt ich oft darüber hinaus noch eine kleine Ermahnung mit einigen Beispielen dafür, was alles passieren kann.

Die stärkste Reaktion dieser Art erlebte ich indessen nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz, im schönen Bern. Ich betrachtete mit Bewunderung die Schaufenster der großen Francke'schen Buchhandlung und dachte, die Stadt muß eine weitgebildete Intelligenzschicht haben. Als ich mich, offenen Schuhbands, zum Weitergehen anschickte, sprach mich eine Dame an und wies mich auf meine Nachlässigkeit hm. Und während ich die Schuhbänder mit Worten des Dankes verknüpfte, hielt sie mir eine kleine Mahnrede: Man könne sich nicht genug vorsehen. Vor allem dürfe man keine ungewaschenen Weintrauben essen. Das sei sehr gefährlich. Eine Freundin von ihr habe sich sogar den Krebs geholt. Auf Reisen müsse man besonders vorsichtig sein. Einer ihrer Bekannten sei vor kurzem beinahe aus der Eisenbahn gefallen. Dies war sicherlich eine Ausnahme. Man kann daraus kaum Schlüsse auf den Nationalcharakter der Eidgenossen ziehen.

Das Ergebnis der Untersuchung ist bisher nicht recht schlüssig. Sollte man die Methode verbessern? Sie macht Spaß. Aber vielleicht entspricht sie doch nicht dem Stand der Wissenschaft.


Aus.: Die Zeit (Hamburg: Bucerius), Nr. 46 (Freitag, 17. November 1967), S. 55 (Teil "Reise")