Norbert Elias:

Macht und Zivilisation

 

Die Beziehung von Macht und Zivilisation [1]

 

Macht steht heute in einem schlechten Geruch. Viele Menschen glauben, daß es sie nicht geben sollte. Oder genauer gesagt, da der Ausdruck ja etwas unklar ist, daß es keine Machtunterschiede geben sollte. Auf der anderen Seite steht Zivilisation in einem guten Geruch. Sie wird von vielen Menschen wertmäßig bejaht. Zivilisation, so sagt man, ist etwas Gutes. Ich erwähne das, weil ich von vornherein sagen will, daß ich mich nicht mit diesen Wertungen befasse. Ich werde nicht darüber sprechen, was sein soll. Ich befasse mich mit der Tatsache, daß es Machtunterschiede gibt, und mit der Tatsache, daß es Zivilisationsprozesse gibt, wie sie zu erklären sind, und wie Machtverhältnisse und Zivilisationsprozesse möglicherweise zusammenhängen.

 

Das ist schwierig, denn Macht als eine gesellschaftliche Tatsache zu betrachten, ohne zugleich von dem Gefühl erfaßt zu werden, daß sie etwas Unangenehmes ist, macht die Sache nicht leicht; dies vor allem aus dem einen Grund, weil keiner von uns gerne in die Macht eines anderen Menschen geraten möchte. Es bedeutet nämlich, daß Menschen anderen Menschen ausgeliefert sind. Andere können uns befehlen, können uns zwingen, auch auf ferne Distanzen hin, was wir tun sollen. Es ist schwierig, über Macht zu sprechen, weil Macht Gefahr für Menschen mit sich bringt. Geht es aber um Gefahren, fällt es uns Menschen schwer, ruhig und affektlos zu denken. Wir stoßen hier auf eine allgemeine Gesetzlichkeit. Obgleich das nicht unmittelbar zum Thema gehört, denke ich, daß ich es für Sie erklären muß.

 

 

Dem Mahlstrom entkommen

 

Die Philosophen haben uns daran gewöhnt, das Denken gewissermaßen im leeren Raum, unabhängig von der Situation, zu erörtern; Erkenntnis unabhängig von der Situation, in der sie gewonnen wird, zu untersuchen. Aber als Soziologe kann ich das nicht tun. Ich muß die Situation, in der sich der Mensch befindet, mitberücksichtigen.

 

So erlauben sie mir vielleicht, in einer kurzen Parabel das Verhältnis von Denken und von der Situation, in der dieses Denken geschieht – insbesondere in einer Gefahrensituation – ein wenig zu erläutern. Als Beispiel dient mir eine kleine Geschichte van Edgar Allen Poe, die vielleicht alle kennen.

 

Es handelt sich um die Geschichte der Fischer im Mahlstrom. In dieser wird erzählt, wie drei Fischer – drei Brüder – durch Zufall in den Sog des Mahlstroms gerieten, wie sie langsam durch das Stürmen der aufgeregten See in die Gischt des Mahlstroms hineingezogen wurden. Der älteste Bruder fiel über Bord und verschwand, die zwei anderen Fischerleute saßen im Boot und nahten sich dem großen Trichter, der gewissermaßen den Abgrund darstellte. An dessen Rand flog viel Treibgut hin und her. In diesen Trichter wurden nun die Fischerleute hineingezogen und in diese Situation erfaßte beide panische Angst. Aber nach einiger Zeit überwand der jüngere der Bruder die panische Furcht und begann sich umzusehen, was eigentlich vor sich ging. Da war jener riesige Wassertrichter, an dessen Rand, an dessen Wand Treibgut, und darunter auch ihr Boot, im Kreis herumgetrieben wurde.

 

Während er so beobachtete, als ob er ein UnbeteiIigter wäre – er war in der Lage, sich einen Moment lang van der Gefahr zu distanzieren – wurde ihm allmählich klar, daß es da gewisse Gesetzmäßigkeiten gab. Es wurde ihm klar, daß große Stücke Treibgut schneller nach unten gezogen wurden als kleine, und längliche schneller als runde. Und so kam ihm, nachdem er diese Gesetzmäßigkeit erkannt hatte, eine Idee – eine Theorie begann sich zu formen. Er sah zwei Fässer, die für die Fische bestimmt waren, in seinem Boot liegen. Er dachte: "Wenn ich mich an ein solches Faß schnalle, dann werde ich vielleicht weniger schnell hinuntergezogen werden". Das tat er auch. Er nahm Seile, schnallte sich am kleinen Faß fest und riet auch seinem Bruder, das gleiche zu tun. Aber der war von der panischen Furcht so paralysiert, daß er nicht denken konnte. AIs der Jüngere sah, daß es vergeblich war, seinen Bruder zu retten, nahm er das Faß und sprang damit über Bord. Er wurde in der Flut herumgetrieben und mußte zusehen, wie das Boot schnell nach unten flog, sah es schließlich unten verschwinden, während er, als sich der Trichter nach sechs Stunden langsam wieder schloß, sich auf der Oberfläche des Meeres schwimmend wiederfand und von einem anderen Fischer gerettet wurde.

 

Je größer die Gefahren sind, umso weniger sind die Menschen in der Lage, realitätsgerecht zu denken, umso mehr affektgeladen ist ihr Denken, und umso weniger sind sie in der Lage, die Siiuation; die die Gefahr mit sich bringt, zu beherrschen. Sie sind in einem Teufelskreis. Nur wenn man zurücktreten, wenn man sich distanzieren kann und so die Situation erfassen kann, gelingt es, die Zusammenhänge zu erkennen, welche zur Rettung führen.

 

Die Naturgewalten können überwältigend groß sein, sodaß kein noch so großes Distanzieren, kein noch so weites Zurücktreten des Menschen ermöglicht, sich zu retten. Auch können Menschen, ohne daß sie in der Lage sind, zu denken oder etwas zu tun, durch Zufall gerettet werden. So muß man auch in unserer Zeit das Wechselspiel von Distanzierung und von Engagement bei dem Phänomen der Macht sehen.

 

 

Macht ist eine Beziehung

 

Ich habe nun einige Umrisse des Ausgangsproblems gegeben. Lassen sie mich jetzt ein paar Worte über das Problem der Macht selbst sagen: Macht, meine Damen und Herren, wird heute in der Sprache des Alltags so verstanden, als ob es sich um etwas [Greifbares] handle, das man besitzt, das man gleichsam in die Tasche stecken könnte wie ein Stück Geld oder ein Stück Seife. Aber Macht ist nichts dergleichen. Macht, meine Damen und Herren, ist eine Beziehung. Wir benötigen im Grunde eine viel distanziertere und differenziertere Sprache, um auszudrücken, daß es sich bei Macht immer um Balanceverhältnisse zwischen Herrschaft und Abhängigkeit handelt – und das nicht nur dann, wenn in ganz extremen Fällen die völlige Überlegenheit auf einer einzigen Seite liegt.

 

Ich will das Problem der Macht an einem einfachen Beispiel, mit dem der Liebenden, illustrieren. Wenn zwei Liebende durch ihre Liebe aufeinander angewiesen sind, dann hat der- oder diejenige von beiden mehr Macht, der oder die weniger liebt. Wer weniger auf andere angewiesen ist, hat mehr Macht in der Interdependenzbeziehung. Das ist, um es kurz zu sagen, das Geheimnis der Macht. Denn es handelt sich immer um Interdependenzverhältnisse, wenn wir einmal von den Grenzfällen absehen, daß etwa die Hunnen über einen kommen.

 

 

Die Zivilisation ist ein Prozess [der Gewissensbildung hinsichtlich des Gebrauchs von Macht]

 

Nun lassen sie mich kurz, ohne daß ich eine Definition davon geben will, auch etwas über Zivilisation sagen. [Auch] Zivilisation ist kein Ding, [auch] darin täuscht uns die Sprache. Sie ist ein Prozeß. Der Mensch wurde im Verlaufe einer langen Entwicklung zivilisiert. Niemand kann jedoch sagen, daß wir [endgültig] "zivilisiert" sind. Wir mögen zivilisierter sein als unsere Ahnen. Wenn sie sich aber fragen, was es bedeutet, zivilisierter zu sein – sie können darüber in meinem Buch [2] nachlesen – dann würde ich heute sagen. daß der einfachste Aspekt eines Zivilisationsprozesses die Bildung dessen ist, was wir Gewissen nennen.

 

Gewissensbildung heißt, daß wir darauf verzichten, unsere Macht oder auch nur unsere physische oder militärische Stärke im vollen Umfang zu gebrauchen, um andere auszubeuten oder zu erpressen.

 

Eben weil wir eine Art von Gewissen haben, das eine Identifizierung mit allen Menschen mit sich bringt, können wir uns zivilisiert nennen. Das ist.jedenfalls eines der Charakteristika des Zivilisationsprozesses. Daß Menschen sich im höheren Maße mit anderen Menschen, auch mit den machtschwächeren, identifizieren, wird ganz besonders in unserer Zeit deutlich, in der die mächtigeren Staaten den schwächeren zu helfen versuchen, zumindest bis zu einem gewissen Grad.

 

Wir stehen [hinsichtlich dieser Gewissensbildung immer noch] inmitten eines Zivilisierungsprozesses. Die Frage – die man sich nicht immer vorlegt – ist: wie ist es eigentlich dazu gekommen ist, daß Menschen, die machtvoller sind, die physisch stärker sind, oder Machtmlttel anderer Art haben, diese nicht einsetzen. Wie ist es denn soweit gekommen, daß wir in den Gesellschaften, in denen wir leben (zumindest soweit es sich um die reine physische Gewalt handelt –  die ökonomische ist ausgenommen –) fast gewaltlos leben können? Viel gewaltloser jedenfalls, als Menschen in früheren Zeiten.

 

Hier, meine Damen und Herren, muß ich eine Korrektur des Allgemeindenkens anbringen, das mir immer wieder begegnet. Wir stellen gewöhnlich fest, daß es noch viele Gewalttaten in unserer Gesellschaft gibt. Sie in Österreich sind glücklich, sie haben keinen Terrorismus. Aber in der BRD und vielen anderen Ländern gibt es noch viel Gewaltätigkeit. Ich glaube, die Frage [nach bestehender Gewalt] ist falsch gestellt. Wir sollten uns eigentlich fragen, wie es dazu gekommen ist, daß wir so außerordentlich friedlich miteinander leben. Wir leben in einer Zeit, in der, wie noch in keiner davor, so viele Menschen in der Gesellschaft so friedlich miteinander existieren. Man braucht nur, gleich dem geretteten Fischer im Mahlstrom, zurückzutreten, sich von der affektgeladenen und emotionalen Sicht der Gewalt distanzieren. Wenn man nur ein wenig zurücktritt und die Entwicklung der Menschheit betrachtet, dann wird man eben zu dieser Ansicht kommen, wenn diese auch heute durch die Emotionsgeladenheit unseres Denkens nicht in Mode ist. Eine zukünftige Geschichtsforschung wird wissen, daß der Ausgangspunkt nicht die Selbsteinschätzung der gebildeten Menschen heute, sondem jener Zustand ist, in dem die Menschen als Nomaden, gleichsam wie wilde Tiere, durch die Welt gingen, von Gefahren umgeben. Das ist der Ausgangspunkt unserer Geschichte. Wenn man das klar sieht, kommt einem das Rätsel unseres eigenen Zusammenlebens, unserer Zivilisiertheit im vollen Umfang zu Bewußtsein.

 

Wie ist es also eigentlich gelungen, daß so viele Menschen so friedlich zusammen leben können? Es gab eine Zeit, in der Menschen, die biologisch genau der gleichen Gattung angehörten wie wir, die "homo sapiens" genannt wird, in kleinen Gruppen und Banden durch die Welt irrten; ständig in Alarm, daß sie von einer stärkeren Menschengruppe überfallen werden könnten. Sie zogen sich in Höhlen zurück, weil Höhlen vielleicht einen gewissen Schutz gewährten. Sie benutzten das Feuer, um sich zu schützen. Wie haben diese Menschen ihre Welt erlebt? Hier hilft von Neuem die Parabel vom Mahlstrom.

 

Wenn man in einer Welt lebt, die ein sehr hohes Gefahrenniveau aufweist, dann denkt man mit seinen Affekten, mit seiner Emotion. Man ist völlig überwältigt von den Gefahren, denen man ausgesetzt ist. So haben die Menschen in der Frühzeit der Menschheit für lange Jahrtausende in der Weise gedacht, die wir heute mythisch-magisch nennen. Sie dachten mit ihrem Gefühl; sie dachten auf sich bezogen, denn ihnen fehlte die Möglichkeit zur Distanzierung, die Möglichkeit, zurückzutreten und zu sehen, wie die Dinge selber zusammenhängen. Sie fragten sich: "Was bedeuten die Dinge für uns; sind sie gut fur uns, sind sie schlecht für uns?" Das heißt, daß das emotionale, selbstzentrierte Denken, das über Jahrtausende hinweg als das selbstverständliche menschliche Denken angesehen wurde, das primäre Denken der Menschen war. Jene sahen alles auf sich gerichtet. Sie sahen, wie wir sagen, alles animistisch, belebt, um sie selbst zentriert.

 

Hier zeigt sich eine Grundfigur der menschlichen Gesellschaft. Weil jene Menschen im höchsten Maße affektgeladen und auf sich selbst zentriert dachten, konnten sie die Gefahren auch nicht bewältigen. Und weil sie die Gefahren nicht bewältigen konnten, dachten sie affektgeladen, emotionell. Sie waren, mit einem Wort gesagt, Gefangene des "double-bind"-Prozesses.

 

 

[Wissenschaftliches Denken als Weg] Aus der Doppelfalle

 

Ich kann in diesem Vortrag nicht ausführlich über diese Grundfigur der menschlichen Situation sprechen, einer Grundfigur, in der die Menschen so eingebunden sind, daß sie sich in einer doppelten Falle befinden. Ich kann Ihnen den Begriff "double-bind"-Prozeß nur mit auf den Weg geben. Es war ungeheuer schwer, sich einer Situation zu entledigen, in der man wegen der Affektivität der Phantasiegehalte des Denkens die Gefahren nicht bewältigen konnte, und wo die großen Gefahren selbst wieder jenen hohen Phantasiegehalt und jene Emotionalität des Denkens bewirkten.

 

Im Grund war das wissenschaftliche Denken die Antwort auf diese doppelte Falle, denn es ist der Ausbruch aus diesem Prozeß. Damit ist auch eines der Rätsel, eine der unausgesprochenen, unbeanworteten Fragen aufgeworfen: wie nämlich die Menschen das mythisch-magische Denken aufgeben und derart die Naturgefahren besser bewältigen konnten. Seit drei oder vier Jahrhunderten befinden wir uns den Naturgewalten gegenüber in der Lage, sie mehr und mehr zuruckdrängen zu können –  selbstverständlich nur relativ. Die Natur ist immer stärker, immer mächtiger als die Menschen. Der Mahlstrom beschreibt ein solches Machtverhältnis in der Beziehung Mensch zu Natur. Aber hier sind wir in der Lage, die Gefahren mit Hilfe des realitätsgerechteren Denkens langsam in den Griff zu bekommen. Damit gelang ein Durchbruch; ein Öffnen der Doppelfalle, von der ich früher sprach; ein Durchbruch, der schwierig und langwierig war.

 

Der Durchbruch im Bereiche der Gefahren, die sich in den Beziehungen von Mensch zu Mensch stellen, ist aber noch nicht gelungen. Wir befinden uns heute in der sehr merkwürdigen Situation, das mythisch-magische Denken bezogen auf die Gefahren des Naturgeschehens zurückdrängen zu können; der Gefahr gegenüber, die der Mensch für den Menschen darstellt, aber nicht. Da stecken wir noch mitten in der Falle drin. Wir sind der Macht der Mächtigeren noch ganz ausgesetzt und unser Denken selbst ist noch affektgeladen, zwar nicht mehr nur in der mythisch-magischen Weise, aber doch sehr emotionell.

 

 

Zurückdrängung individueller Gewalt [durch Staatenbildung]

 

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: unseren Ahnen (bedroht von Naturgewalten und anderen Menschen) erschien die Welt als eine Gesellschaft wie die ihre, denn allem traten sie mit jenem selbstzentrierten Denken gegenüber. Der Pazifizierungsprozeß, der Prozeß, in dem es den Menschen gelang, zumindest im Inneren ihrer Gesellschaft ein höheres Maß an Befriedung zu erreichen, hing mit der Bildung von Staaten zusammen.

 

Die Staatenbildung ist eine gesellschaftliche Erfindung, die zumindest eine relative Befriedung der Gewalt ermöglichte. Ich nenne sie eine "Erfindung", obwohl wir heute den Begriff der Erfindung gewöhnlich auf den technischen Bereich einschränken. Aber es gibt auch soziale Erfindungen, wenn auch nicht von einem einzelnen "Erfinder" gemacht. Ich gebrauche den Begriff nur, um Ihnen den Umstand ins Licht zu rücken, daß die von uns selbstverständlich hingenommene Tatsache, in Staaten zu leben, ohne über die Funktion des Staates [als soziale Erfindung] eine klare Vorstellung zu haben, überdacht werden muß. Unser Wissen zeigt uns aber heute, an welcher Stelle der Entwicklung der Menschheit die Organisationsform des Staates zum erstenmal auftaucht.

 

Merkwürdigerweise (oder eigentlich gar nicht merkwürdigerweise) hing die Entwicklung der Staatenbildung auf das Engste mit einer anderen Erfindung zusammen, über die wir [auch heute immer noch] viel reden. Es ist die technische Erfindung der Schrift, des Schreibens. Wir wissen, daß beide ungefähr im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in Südmesopotamien entstanden, in Sumer. Die sumerischen Stadtstaaten waren nach unseren heutigen Erkenntnissen die ersten Gesellschaften, die die Form eines Staates bildeten, und die auch die Schrift verwendeten.

 

Und was bedeutet das? Es wurden spezielle Einrichtungen (spezielle "Institutionen") geschaffen, die über den inneren Frieden zu wachen und zugleich die Gesellschaft vor äußeren Feinden zu beschützen hatten. Es gab Spezialinstitutionen, die wir Könige nennen, die das Monopol der physischen Gewalt –  urn einen Ausdruck von Max Weber zu benutzen –  an sich brachten. Das heißt: sie waren in der Lage, die physisch Stärkeren in ihrer Gesellschaft daran zu hindern, ihre Stärke zu benutzen, um andere zu erpressen. Sie allein behielten sich das Recht vor, durch physische Gewalt alle anderen zu zwingen, friedlich zu sein. Hier gab es also im Inneren der Staaten die ersten Schritte der menschlichen Befriedung, auf die im Grund alles aufbaut, was Wirtschafts- und Kulturentwicklung heißt.

 

 

Der Staat und die Geburt des Gewissens

 

Wir finden also, daß die ersten Ansätze der Gewissensbildung auf das Engste mit dieser Staatenbildung zusammenhängen. Dies trifft zwar nicht überall zu, aber wir wissen, daß sich die ersten Spuren einer Gewissensbildung in der Frage zeigen, ob man recht oder unrecht getan habe, ob man die Ärmeren und Schwächeren ausgebeutet habe [oder nicht].

 

Das geschah zum ersten Mal –  zumindest unseren bisherigen Kenntnissen nach –  im alten Ägypten. Ein amerikanischer Ägyptologe hat ein Buch über die Geburt des Gewissens ("Birth of conscience") geschrieben [3]. Genau wie die Vernunft, die nach der Meinung der Philosophen zwar allen Menschen angeboren scheint [, (aber nicht ist)], ist auch das Gewissen in Wirklichkeit erst im Laufe der Entwicklung der Menschheit gebildet worden. Hier finden wir [auch] das Entstehen von Gut und Böse im Zusammenhang mit dem Machtmonopol des Pharaos. So benutzte der Pharao seine Macht, um selbst seine mächtigsten Bürger (die Großen seines Reiches), dazu zu zwingen, die Ärmeren nicht auszubeuten.

 

Das tat er in seinem eigenen Interesse. Machthaber handeln meist in ihrem Interesse. Aber wie immer die Interessenslage auch war, hier setzte der Machthaber ein Gesetz ein, das es auch den Richtern eines Landes zur Pflicht machte, die Ärmsten und Schwächsten nicht auszubeuten, weil er diese zum Pyramidenbau benötigte. 

 

Wir finden in Grabinschriften zum erstenmal Hinweise, daß der Mensch vor die Götter hintritt und sein "Herz auf die Waage" legt. Sein Herz wird befragt: "Hast du recht getan, oder unrecht?" Er bittet sein Herz, ihn nicht zu verraten, damit er nicht in die schlechte Unterwelt kommt. Da finden wir die Anfänge dessen, was man einen Zivilisierungsprozeß nennen kann. Menschen, die sich nicht allein aus Furcht vor dem Stärkeren zurückhalten, sondern aus Angst vor dem eigenen Gewissen. Diese Internalisierung der äußeren Zwänge ist eine der zentralen Grundfiguren des Zivilisierungsprozesses.

 

 

Das Janushaupt des Gewaltmonopols

 

Ich habe zwei Stationen aufgezeigt, die den Beginn der Entwicklung der Zivilisation bezeichnen. Die Menschen befrieden sich durch Staatenbildung und Internalisierung eines Gewissens. Ich habe gezeigt, daß Staat und Zivilisation auf das engste miteinander verknüpft sind. Zugleich zeigt sich aber, daß die Zivilisationsbewegung beschränkt ist. Lassen sie mich von der Vergangenheit zur Gegenwart springen, und diese einmal als eine Station auf dem Weg des Zivilisierungsprozesses betrachten.

 

Heute ist es so, daß wir innerhalb unserer Staaten relativ hoch befriedete (wenn sie wollen: zivilisierte) Räume geschaffen haben, in denen es ein Monopol der physischen Gewalt gibt. Das heißt: die Staatsregierungen stellen den Anspruch, allein Gewalt ausüben zu dürfen. Gewalt gegen den Nächsten wird durch die Gewaltorganisatian des Staates, durch Polizei und Militär verhindert. An dem institutionellen Charakter des Gewaltmonopols erkennt man schon, wie schwierig es ist, sich die Befriedung durch den Fortschritt im Gewaltverzicht eines Einzelnen vorzustellen. Aus diesem Grund habe ich die Schaffung jener Organisationen eine soziale Erfindung genannt. Es ist [bzw. wird] schwierig für die Menschheit. die physischen [und sonstigen, gewalt- bzw. machtrelevanten] Unterschiede nicht zu gebrauchen. Nur durch die Spezialorganisationen von Polizei und Militär ist man in der Lage, befriedete Raume zu schaffen, in denen 5, 60 oder 400 Millionen Menschen relativ gewaltfrei miteinander leben können.

 

Ich will es aber auch deutlich sagen: auch die soziale Erfindung des Machtmonopols ist wie alle Erfindungen der Menschen zweischneidig. Ich bin sicher, daß sich diese Frage bei Ihnen bereits erhoben hat. Alle menschlichen Erfindungen haben ein Janushaupt, sind brauchbar für das Gute, wie für das Schlechte, z. B. die Atomenergie für Waffen und für friedliche Zwecke. So war es auch mit dem Feuer, das sich zum Kochen des rohen Fleisches genauso gut verwenden ließ wie zum Niederbrennen der Hütten der Nachbarn. 

 

Genauso hat auch der Staat ein Janushaupt. Er gibt außerordentliche Macht in die Hände der Regierenden, gibt ihnen die Verfügungsmacht über das Monopol der physischen Gewalt. Ohne Zweifel haben die Menschen die Jahrtausende hindurch das Gewaltmonopol [auch] für ihre eigenen Zwecke gebraucht, um andere zu ihren Gunsten auszubeuten.

 

Es stellt sich die Frage, warum von Beginn an die Staatenbildung über die Stufe der absoluten Monarchien führte. Wie erklärt es sich, daß Könige und Priester am Beginn der Kulturentwicklung stehen? Weil die Anwendung des Machtmonopols durch den gottgleichen König einen Überschuß aus der Ausbeutung aller Bevölkerungsschichten erbrachte, der zur Schaffung der Kulturgüter zur Verfügung stand. Durch diese Gewalt wurden jene Götter des alten Ägyptens geschaffen, die wir heute bewundern. 

 

Außerdem kam diese Kulturentwicklung vor allem der Oberschicht zugute. Wenn ich das aber nebenbei sagen darf: Dies ist trotzdem eine etwas andere Geschichtsbetrachtung als die marxistische. [Denn] Die wirtschaflliche Entwicklung selbst ist nur durch die Monopolisierung der Gewalt, der Befriedung der Menschen möglich geworden. Die Staatenbildung ist die Bedingung für den ökonomischen Warenverkehr. Zwar waren auch im alten Mesopotamien jene die Reichsten, die im Krieg und durch ihn Gewinne machten, doch das primäre Problem der Menschheit war, jene befriedeten Räume zu schaffen, die den Aufbau einer Wirtschaft und eine Kulturentwicklung ermöglichten.

 

 

In der Doppelfalle [zwischenstaatlicher Beziehungen]

 

Wir haben in unserer Gesellschaft sehr große Räume (wenn Sie wollen: zivilisierte Räume), die durch Selbstzwang, durch Fremdzwang zum Selbstzwang, durch Zwang zur Zurückhaltung, zur Selbstkontrolle, zur Vernunfts- und Gewissensbildung ausgezeichnet sind. 

 

Doch zwischen den einzelnen Gesellschaften, den Staaten, haben wir kein gemeinsames Gewaltmonopol. Was das Verhältnis der Staaten untereinander betrifft, so leben wir noch immer im Zustande unserer Ahnen. Es gibt niemanden, der den Stärkeren [den stärksten Staat] zurückhält, so daß wir immer auf der Hut sein müssen, nicht überfallen zu werden. Zwar gibt es eine gewisse Mäßigung, denn die befriedeten Räume innerhalb der einzelnen Gesellschaften strahlen auch auf das Verhaltnis der Staaten untereinander aus, doch ist das gewaltfreie Verhalten noch lange nicht erreicht. Dieser Gegensatz ist strukturell bedingt, denn die Lösung liegt in der Schaffung eines Gewaltmonopols, das stärker ist als der stärkste Staat. Die Frage, die sich aus diesem Umstand ergibt, ist eine utopische. Lassen sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal auf den "double-bind"-Prozeß zurückkommen. Wenn es kein Zentralmonopol der Gewalt gibt, dann sind die Mächte ganz bestimmten Zwängen unterworfen - und um solche Zwänge geht es dem Soziologen eigentlich.

 

Ich habe schon gesagt, daß ich mich hier nicht damit befasse, was sein soll, sondern nur mit der Analyse dessen, was ist. Man mißversteht das Verhältnis von Rußland zu Amerika heute in ganz hohem Maße, wenn man glaubt, daß ihr Gegensatz allein auf dem Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus beruht. Das spielt zwar eine Rolle, gewiß. Wir befinden uns heute, wenn Sie wollen, in einem Zeitalter der sozialen Glaubenskriege, in dem Glaubensbekenntnisse zu Kapitalismus oder Kommunismus die Menschen motivieren und trennen. Auch spielt die Frage der physisch-militärischen Starke eine entscheidende Rolle. 

 

Aber all das genügt nicht, die Beziehungen der Sowjetunion zu den Vereinigten Staaten zu erklären. Beide sind Gefangene der "Doppelfalle". Jeden Schritt, der Amerika stärkt, fühlt Rußland als Bedrohung und umgekehrt. Diese doppelte Falle ist es, die die Eskalation der Rüstung bewirkt. Doch diese Situation zwischen Staaten ist nichts Neues. Schon Karthago und Rom befanden sich in einer solchen; so war es mit den Assyrern, den Ägyptern in der Alten Welt, mit Mesopotamien. 

 

Wie immer in der Geschichte stehen sich zwei tödliche Rivalen an der Spitze einer Staatenhierarchie gegenüber. Wir sind geneigt, emotional zu urteilen, diesen oder jenen zu tadeln und ihm Vorwürfe zu machen. Soziologisch müssen Sie aber die Zwangssituation sehen, in der sich die Menschen [an der Spitze solcher Staaten] befinden. Das Problem ist daher, wie wir die Doppelfalle, den "double-bind"-Prozeß [auf der Ebene staatlicher Beziehungen] lösen konnen.

 

Lassen sie mich am Schluß ein paar Möglichkeiten ausführen, die ihnen zeigen werden, wie schwierig das eigentlich ist, und welche Problematik hier grundsätzlich verborgen ist.

 

Es wird mit Recht immer von einer Machtbalance gesprochen. Das ist in der Tat völlig richtig, denn diese  ist nämlich der Kern der Doppelfalle. Und diese Situation beschrankt sich nicht nur auf Amerika und Rußland. Betrachten sie die gesamte Staatenpyramide, die die Menschheit bildet, so sehen sie die Staaten nach der Stärke ihrer Machtquellen geordnet

 

Innerhalb dieser Hierarchie gibt es ständige Bewegung, die Machtpositionen verschieben sich. Die Schwierigkeit besteht darin, daß jede Bewegung zugleich das Machtgleichgewicht zwischen Amerika und Rußland berührt. Ändert sich das Verhaltnis zwischen z. B. Ägypten und Libyen, so betrifft es auch das Verhältnis der Großmächte. Natürlich vereinfache ich. Ich vergesse nicht China. Eigentlich leben wir in einer tripolaren Welt. Aber ich will auf die komplizierten Dinge hier nicht eingehen. Ich will nur so nebenbei einige Hilfsmittel aufzeigen und die Denkfigur benennen, die bloß in einzelnen Ländern und Menschen die Schuldigen sucht und dabei Gute und Böse unterscheidet. Ich will helfen, daß diese Denkfigur zugunsten eines Struktur-Denkens aufgegeben wird. Denn die Staatenpyramide, die die Welt heute aufteilt, ist eine Struktur, die interdependent ist, und in der jede Veränderung zugleich das Gleichgewicht berührt.

 

 

Drei Szenarios oder: "Tu felix austria…"

 

Zum Scherz, wenn Sie wollen, habe ich Szenarios ausgearbeitet, die die Möglichkeiten der Lösung der Doppelfallensituation [zwischen den USA und Rußland] aufzeigen.

 

Szenario Eins: Eine der beiden Hegemonialmächte wird durch innere Kämpfe, durch Bürgerkriege so erschüttert, daß die andere Macht diese Schwachstelle benutzt, um die eigene Hegemonie über Dreiviertel der Welt auszudehnen. Die Balance wäre aufgehoben und überall würden kapitalistische oder kommunistische Regierungen eingesetzt. Es wäre eine Einigung der Welt unter einem Zentralmonopol herbeigeführt – ein Weltstaat unter der Führung einer der Hegemonialmächte.

 

Die andere Möglichkeit wäre ([Szenario Zwei], [und es ist] eine utopische Möglichkeit), daß eine Einigung zustande kommt, daß die Vereinten Nationen eine Polizei- und Militärmacht zu Verfügung haben, die die Stärke jedes einzelnen Staates bei weitem übersteigt. Man einigt sich, daß die Truppen der Vereinten Nationen durch eine Rotation, [bzw.] einen Turnus alle zwei Jahre von jedem Mitglied des Sicherheitsrates befehligt werden soll.

 

Sie sehen sofort die Unmöglichkeit dieses Szenarios. Warum ist es unmöglich? Weil die Russen den Amerikanern – haben diese das Kommando inne – nicht trauen: daß sie nicht doch die gewaltige Macht der UN-Truppen dazu benutzen, um ihre Hegemonie über die gesamte Welt auszudehnen. Und im ungekehrten Falle würde dies genauso geschehen. In anderen Worten: die Situation der Doppelfalle ist nicht beseitigt. Es fehlt das Vertrauen, daß die andere Seite sich den Regeln fügen könnte. Es stellt sich auch die Frage, ob dieses Vertrauen überhaupt hergestellt werden kann.

 

Lassen Sie mich zum Schluß noch das dritte Szenario in Erwägung ziehen: Es kommt wirklich zum Krieg, aber der Krieg beschränkt sich auf Rußland und Amerika. Gegenseitig entladen die Hegemonialmächte ihre Bomben auf das Territorium des Gegners, um einander zu zerstören. Das [= diese territoriale Beschränkung eines hegemonialen Krieges] ist natürlich – wenn ich es hier in aller Stille sagen darf – ein Wunschtraum, ein unerfüllbarer Wunschtraum. Aber man muß doch in Erwägung ziehen, wie schön es [= das "Szenario Drei" der territorial auf die Supermächte begrenzten Kriegführung] wäre: dann würden wir als Zuschauer neutral bleiben, und dann würde vielleicht gerade auch auf Österreich wieder der alte Spruch passen, den sie alle kennen: "Bella gerunt allii, tu felix Austria nube".

 

Man muß ja nicht immer gleich heiraten, aber jedenfalls Kriege sollten die anderen führen. Hoffen wir, daß das der Fall sein wird, wenn es schon zum [großen] Krieg [der Supermächte] kommen sollte.

(Die Tonbandabschrift [4]redigierte Heribert Watzke) [5]

Norbert Elias wurde 1897 in Breslau geboren, hat Medizin, Philosophie und Psychologie in Breslau, Freiburg und Heidelberg studiert. Er hat an zahlreichen Universitäten in verschiedenen Ländern gelehrt. Buchpublikationen in deutscher Sprache: Die höfische Gesellschaft. Eine Untersuchung zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (1969), Was ist Soziologie? (1970), Über den Prozess der Zivilisation (1939/1969).


Der Artikel erschien Anfang 1982 in: Sterz. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kulturpolitik ([damals] Eibiswald/Stmk/AUT: Sterz-Verlag – Brettschuh, Franz, Lauffer), Nr. 19 (Winter 1981/82), S. 26-27 [heute: Weiz/Stmk/AUT]

 


Anmerkungen:

 

[1] Die Zwischentitel wurden von Heribert Watzke eingefügt. Der Text der durch ihn redigierten (und von Elias nicht selbst bearbeiteten) Tonbandabschrift wurde für diese online-Version von Ingo Mörth generell (durch kursive Hervorhebungen sinntragender oder rhetorisch betonter Wortfolgen, und fallweise durch geänderte, aber offensichtlich sinnentsprechendere Interpunktation oder Absatzgestaltung) behutsam zwecks Betonung der jeweiligen Argumentationsstränge neu akzentuiert. Im Schlussabschnitt ("Drei Szenarios ...") wurden durch Ingo Mörth auch speziell einige mißverständliche Fürwörter durch Wiederholung des Bezugskontexts ergänzt, um klarzumachen, dass Elias nicht einen Dritten Weltkrieg an sich als Desiderat ("Wunschtraum"), sondern dessen  Einschränkung im Falle des unvermeidlichen Falles auf die Supermächte meinte. Diese Einfügung von sinntragenden Bezugskontexten wurde in jedem Fall durch eckige Klammern charakterisiert und fallweise auch bei anderen Passagen des Artikels (wenn notwendig) vorgenommen. Sachlich oder inhaltlich eindeutig falsche Transkriptionen (wie "Suma" statt "Sumer") wurden stillschweigend korrigiert. Dazu wurden die beiden zitierten Bücher als Fußnote mit allen bibliographischen Angaben  ergänzt. [back]

 

[2] Norbert Elias (1969): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Bern etc.: Francke (zuerst 1939) [back]

 

[3] James Henry Breasted (1950): Die Geburt des Gewissens. Die Entwicklung des moralischen Verhaltens im kulturgeschichtlichen Verlauf Alt-Ägyptens. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ben O. Stempell, Zürich/CH 1950: Morgarten; zuerst: James Henry Breasted (1933): The dawn of conscience, New York/N.Y./USA 1933: Scribner's Sons (XXVI, 431 pp.; reprint 1968: The Scribner Library). [back]

 

[4] Vortrag, den Norbert Elias am 26. Oktober 1981 in Graz im Rahmen der Steirischen Akademie (Generalthema: "Macht, Ohnmacht, Übermacht: Aggression in unserer Gesellschaft") hielt. 

 

[5] Heribert Watzke war Mitarbeiter und Co-Herausgeber bei etlichen Sterz-Editionen zwischen Nr. 7 (1978) und 31 (1984) und ist heute als Lebensmittelchemiker Abteilungsleiter beim Nestle-Forschungszentrum Lausanne [back]