Freiburg, den 14. 6. 1920 

  

Lieber Martin! 

Du siehst: nun schreibe ich Dir, obgleich ich es für falsch halte, den lebendigen Fluss der Gedanken in eine feste Form zu geben und gleichsam abzuschneiden, bevor man die volle Gewissheit hat: Hier ist eine Einheit zum Ende gediehen, reif zur Form. Beschwerung aber wird dieser Meinung zu Teil aus der Erkenntnis, dass das Kainszeichen unsrer Zeit die nicht zur Rundung gediehenen Werke, die nicht zur Vollendung gewachsenen Gedanken sind.

Deine Karte jedoch zeigt mir eine Notwendigkeit und ich schreibe in dem Bewusstsein, dass selbst mein Unvollendetes und Unfertiges nirgends besser verstanden und lebendiger erfasst wird, als bei Dir und dem Kreis unsrer Freunde. Denn ich will es Dir nur gestehen - und bitte Dich nimm diese meine Worte so, wie Du mich kennst: nicht als einen Schwall durch die Ferne rosig gepuderter Gesichte sondern als ernsthaftes Resumé - will Dir gestehen, dass es mir hier erst in der Entfernung klar geworden ist, welches Wunder wir uns schufen, als wir diesen Kreis der Führerschaft u. des Breslauer Blau-Weiss zusammenbanden. Was ich damit meine, will ich zu erklären versuchen. - Durch Geschlechter u. Geschlechter muss anderwärts ein Volk wachsen, bis seine Kultur Sicherheit u. Richtung und Einheit der Form über das ganze Leben hin erwirbt, und wir haben nie daran gezweifelt, wir - Kämpfer gegen das Alte, dass der Strom lebendiger Überlieferung einen unersetzlichen Schimmer über Werke u. Wirken eines Volkes wirft. Nun bei näherem Zusehen entdeckt man, dass zwar immer u. notwendigerweise das Volk der Boden ist, auf dem eine Kultur zu wachsen vermag, dass aber andrerseits stets eine Gesellschaft (ein heute noch, aber nicht für immer u. in allen Fällen an der Klasse orientierter sociologischer Begriff von höchster Wichtigkeit) es ist, welche allein eine Tradition trägt und so imstande ist hie und da auf ihren Höhen Kreise von hoher Kultiviertheit erblühen zu lassen. Da jedoch heute von Kaste zu Kaste unüberwindbare Schranken gesetzt sind, erstarrt nur zu bald die Kulturkraft des Kreises, unerbittlich angewiesen auf die Wechselbeziehung u. innige Verknüpfung mit der Frische der sogenannten »traditionslosen« Masse, im trockenen Ritus. Wie dem auch sei, das Werk wird immer in einer Art geboren aus dem Kreise. Ich denke an die vier Generationen Bach die uns steigend Höhepunkte gotisch-baroker Musik brachten u. deren letzter, der Grosse, vollkommen einverstanden in der Zeit, nicht aber auch in der Familie und deren Kreise stand; ich denke an Goethes Weimarer Kreis, dessen Sein oben von den zierlichen u. pikanten Windungen Wielands zur Décadence hin ablief bei der Romantik verengend und von unten her durch das gewaltige Pathos des zu früh verlöschenden Schiller getragen wurde. Zu früh, sage ich, denn Kleist ging zu Grunde daran, dass er den Anschluss an diesen seinen Kreis nicht mehr fand und schickte sich frierend in den Tod. - Der Bayreuther Bund sei noch genannt, dessen Erstarrung der Musik jedenfalls - eine Lücke lässt, die Pfitzner einzunehmen zwar bereit aber nicht imstande ist. - Brauche ich noch an Stefan George zu erinnern? Immerhin gibt sein Kreis, so scheint es wenigstens dem Aussenstehenden, ein Beispiel für die Tünchung der Minderen durch eines Mächtigen Werk. Zunächst ein paar klärende Worte zum Thema in sein in Geiste: »Es ist ein Irrtum, dass nur grosse Geister ein Unternehmen mit grossen Gedanken zu fördern vermochten; von aller Wichtigkeit ist es die Kleineren zu erziehen und hinzuleiten, auf dass sie die Luft bilden in denen der grosse Gedanke atmen kann. Wir wissen wohl, dass der schönste Kreis die grossen Geister nicht hervorrufen kann; aber auch dies, dass manche ihrer Werke nur aus einem Kreise heraus möglich werden.«- - (Bl. f. d. K. IV.1) Seinem Kreise aber scheint es eigen, dass die Kleineren, aus ihrer Ratlosigkeit in die Helle seines Lichts gestürzt, sklavisch in seinem Gestus gefangen bleiben. So steht es zu befürchten, dass im klassischen Pathos der fünfüssigen Schritte Anfang u. bereits auch Ende ihrer Lehre beschlossen liegt, einer Lehre, die zudem noch derart jegliches Heil dem Meister zuschreibt, dass logischerweise mit ihm eigentlich die Kunst zum Ende käme, sowie die Geschichtstheorie u. Philosophie Hegels das eigne Werk so sehr als Gipfel empfand, dass eigentlich danach hätte nichts mehr kommen dürfen. 

So ermüdet denn auch das fünftaktige Hopsen der Kleineren auf die Dauer derart, dass man die eignen Worte Georges zuweilen nur noch mit bitterem Geschmacke liest. - 

Was ich unter Kreis verstehe, wird so klar geworden sein und auch wie er nicht beschaffen sein darf, will er lebendig u. wert sein. Dass jeder einzelne ein voller Mensch ist, Gebender und Nehmender zugleich, ist seine Grundbestimmung. Und die individuelle Arbeit wird gedeihen, braucht man sich nicht immer wieder über die Axiome seiner Art zu verständigen, um sie zu kämpfen, sondern baut ein Gebäude von gleichem Boden aus in der gleichen Richtung, sich gegenseitig ergänzend, anregend u. anfeuernd, beurteilend und ehrlich verurteilend, jeder schaffend an seinem Werke. - Aber die Richtung sei ohne Scheuklappen, lächerlich zu behaupten, das müsse so sein, sondern frei, frei sei der Kreis und seine Bindung keine Fessel, scharfsichtig nach allen Strömungen des Lebendigen u. stark- genug, sich ergreifen zu lassen und also sie zu ergreifen. So gewiss die Führung es Einzelnen unersetzlich ist, so wenig darf die Gefolgschaft in der Nachahmung seines Faltenwurfs erstarren, wenn sie nicht allein dem Werke des Führers dienlich sein will, sondern darüber hinaus der Kultur des Volkes. Das aber wollen wir doch: der Blau-Weiss. Immer wieder und wieder steht vor uns die Frage, die wir uns in voller Schärfe stellen müssen: Was ist unser Ziel u. was haben wir demnach jetzt zu tun? Eine Frage, die notwendig ist, wenn wir mehr sein wollen, als eine vom Trieb für kurze Zeit geschobne Bewegung. | Und die Antwort, die wir uns geben können wird sich richten müssen nach der vorläufig letzten Zielsetzung, - vorläufig, denn die Aufgabe, der wir arbeiten ist eine unendliche, ewig lebendige - nach der letzten Zielsetzung einerseits und den funktional damit verknüpften Problemen des Weges. | Wir, lieber Freund, sind uns darin einig, die Probleme des Weges, die Conflikte der Politik und des Wirtschaftslebens mit vollkommner Schärfe zu durchdenken und wir sind uns darüber klar geworden, dass ohne ihre Durchdringung unsre Arbeit nicht möglich ist, da wir mehr sind, als ein aetherischer Klub.  Aber hier in der Ferne habe ich wieder gelernt, dass man nie vergessen darf auf ihre Notwendigkeit hinzuweisen. - Es steht nicht zu befürchten, dass wir das große Ziel der Kulturarbeit darüber aus den Augen verlieren. Denn das sehe ich nun soweit mein Auge eben reicht, als das letzte bestimmende unsrer Arbeit: den Kreis zu schaffen, die Gesellschaft, wenn Du willst, die frei genug, stark genug u. geschlossen genug ist eine Kultur über das Volk zu bringen.  Eine Arbeit von schwerer Last liegt nun vor uns. 

Aus uns Juden, dieser Masse von Leuten niederer Herkunft, dieser wirbeIlosen skeptisch-cynischen, relativistischen und im Grunde schon halb verzweifelten Menge, die seit Jahrhunderten, unter schwerem Drucke wuchernd längst des Geruches einer tiefen u. inbrünstigen Kultur entwöhnt ist, die heute nichts ist als eine einzige schiebende Gesellschaft (welche, was noch entsetzlicher ist, verhungern müsste, könnte sie nicht schieben) aus diesen Juden ein Kulturvolk zu schmieden, das ist das Ziel. Schwerer drückt es uns, da niemand mit klarerem Blick den Abgrund des heutigen Seins und die blendende Höhe der erstrebten ruhigen u. massvollen und runden Haltung ermisst, als wir, ja da wir fast ganz allein sind in der Not dieser Erkenntnis. Denn müsste nicht wahrlich die Arbeit der Blau-Weissen ganz anders, aber auch völlig anders sich gestalten, sähe man zunächst das Ziel, eine Art von Gesellschaft, einen Kreis, einen Schimmer von Einheit erstehen zu lassen, der nicht nur unsrer heutigen Leistung die Gewähr eines Verständnisses und damit die Möglichkeit höher hinaus in die reinere Luft zu eilen, gäbe, sondern durch ganz allein eine Art von Tradition, von kultureller Wirkungsmöglichkeit in Palästina gewährleistet wurde. Sieht man denn nicht, das hier ganz allein der tiefste Kern der Blau-Weissblätterfrage liegt, dass der Blau-Weiss so lange der Lebendigkeit ermangeln wird, solange nicht eine Leitung, ein Kreis klarer u. starker u. lebendiger Menschen, die Zügel in die Hand nimmt und systematisch eine Einheit des Blickfeldes und damit der Arbeit, geboren aus der eignen Erkenntnis des einzelnen heraus, schafft, die allein die Macht unsrer Richtung und die Antriebskraft unsrer Gedanken verbergen könnte. So aber, trotz Gelächter der Hölle, sitzt in Berlin eine Anzahl Menschen, Kreis wäre zuviel gesagt, z. T sicherlich gescheiter Menschen, welche der grundsätzlichen Meinung sind: Von einer Wahrheit zu reden, sei lächerlich, vielmehr sei es das beste an einem bestimmten Punkte der Unterredung halt zu machen, sich gegenseitig zu verbeugen und zu versichern: Man habe die grösste Hochachtung voreinander und habe sich bisher glänzend verständigt, aber an diesem Punkte gehe man auseinander, da sage der Mechanismus: Knax, und eine Unterhaltung habe keinen Sinn mehr, denn das seien Temperamentsunterschiede oder, mit Simmel zu reden, letztinstanzliche Charakterentscheidungen und es sei sehr interessant zu constatieren: ich stehe hier und Du stehst dort.  Aber eine Brücke gäbe es nicht und man habe nochmals die grösste Hochachtung voreinander und im übrigen täte man am besten nach Hause zu gehen. Und das tut man denn auch - Ich bitte Dich nicht etwa zu glauben, ich lieferte Dir hier eine Karrikatur; sondern so ernst, wie mir um diese ganzen Dinge ist, so ernst bitte ich Dich auch diese Schilderung zu nehmen: Denn es ist begreiflich dass man von diesen Gesichtspunkten aus, um nur ein Beispiel zu nennen, zwar einige Worte, aber auch nicht annähernd die Tiefe des Problemkreises, um Individuum u. Typus, verstehen kann, und ich bin trotz der vielversprechenden Bemerkung v. G. Strauss am Schlusse des Rundschreibens, dennoch begierig ob auch nur annähernd die Problemlage erfasst wurde; wie froh wäre ich darüber! Denn dann wäre es vielleicht auch möglich, jene andre Wirksamkeit der Leitung anzuspornen, die zur Voraussetzung hat: man glaube nicht an unüberwindliche Klüfte zwischen Mensch u. Mensch; und man bändigt mit dem Willen, das als wahr erkannte durchzuführen u. sei es auch nur d. Erkenntnis der Wahrheit, die Einzelnen zum Bund, zum Kreis u, Kreiseskreis, zur Gesellschaft in unserem Sinne. Zwar weiss ich wohl, dass etwas dieser Art nicht »veranstaltet« werden kann, aber, wo sollte die Möglichkeit eines Wachstums v. Kreisen überhaupt gegeben sein, wenn nicht im Blau-Weiss, zumal da keinesfalls, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, wachsen u. schaffen eines lebendigen Gebildes scharfe, unverwischliche Gegensätze sind.

(Geschrieb nachts 9 - 12 1/2; entschuldige daher bitte die schlechte Schrift, Fehler d. Stils u.s.w. u.s.w. nicht darauf kommt es mir an u. ich möchte mir d. Mühe ersparen, das Ganze noch einmal abzuschreiben u. grossartig zu feilen)

Ich vergesse dabei durchaus nicht, dass der Dunst der Grossstadt, insbesondere Berlins, dem Gedeihen einer Kultur sowohl, wie der Erkenntnis der Wahrheit - wächst doch beides aus demselben Samen - am schädlichsten ist.  Und es ist ja nur zu begreiflich, bedenkt man, dass dauernd Bündel neuer Meinungen, Künste, Glaubensartikel u. Reklamen den armseligen Menschen überfluten, der froh ist, hat er nur für sich ein trocknes Fleckchen u. Glaubensartikelchen gerettet, auf dem er mühselig durch das Gewirr steuert. Und nur ein ganz Starker kann es da wagen von der Fähigkeit seiner erworbnen Grundmeinungen aus, das Streben nach der einen lebendigen Wahrheit im Banner zu tragen, einer Wahrheit, die nicht starr u. geheimnisvoll hinter den Erscheinungen steht, sondern wahrhaft lebendig sich im Kampfe der Meinungen im Fortschreiten der dialektischen Methode entfaltet, die Idee einer unendlichen, einer ewigen Aufgabe. So war es, wie sich mir hier draussen immer und immer wieder bestätigte, wahrlich keine zufällige Marotte, die in dieser Erkenntnis des Wahren Grundlage, Bedingung u. Princip des Kreises erblickte. Und wenn sich mir heute aus der Ferne im Wirbel der zerrissenen, im letzten hilflos auf und ab Treibenden Juden, die sich überall finden, die Einheit unseres Kreises, wie ich oben sagte, als ein kleines Wunder darstellte, als ein vielverheissender Anfang und Fortschritt, so war das keine rosige Übertreibung, sondern die Freude daran, dass in uns, den heimatlosen Juden endlich wieder einmal die Möglichkeit gesetzt ist, einen Keim, einen kleinen, blassen weissen Keim kommender Überlieferung u. Sitte u. Kultur hervorzutreiben.

Dass meine Hoffnung, dass unsre Hoffnung nicht zuschanden gehe, dass sie immer kräftiger u. wirkungsvoller über den ganzen Bund hinstrahle, dafür wollen wir sorgen, und wenn ich sehe, wie ich hier im Kreise der immer düsterer u. pessimistischer schauenden Jugend immer wieder fast als einziger imstande bin anzuspornen u. frei von allen Utopien neues Leben zu wirken, neue Gedanken zu bringen die Stagnation unsrer Diskussionen allmählich zu überwinden, wie ich langsam die erstarrte Mumie des hiesigen Blau-Weiss zum Dasein bringe, und die Jungens wieder mit Freuden zu Heimabend u. Wanderung kommen, so weiss ich, dass ein Teil der unerschütterlichen, Schritt vor Schritt setzenden Arbeit aus dem Gedenken des Breslauer Blau-Weiss hervorspriesst, weiss vor allem, das wir nun langsam u. bewusst die Arbeit am ganzen Bund als unsre Aufgäbe empfinden müssen. Und ich hoffe, dass der kommende Bundestag am Rennsteig in Thüringen, zu dein Du und ein Teil des Bl.-W. doch hoffentlich auch kommen werden, Gelegenheit u. Beginn ihrer Erfüllung bringen werden.  Mit der Bitte mir bald Persönliches u. Sachliches von Euch zu berichten

grüsst Dich Dein N. E.

 

p.s.1

Personalia v. mir folgen ein ander Mal. - Hoffentlich nimmt Dich die denkpsychologische Analyse dieser lapidaren Sätze nicht allzulange in Anspruch, u. sie genügen in jeder Hinsicht Deinem Wunsche nach »starker sachlicher Qualität«. Wie? Da ich übrigens ausser meinen Eltern niemandem in Breslau schreibe, so darfst Du bei mir keinerlei Kenntnis irgendwelcher Breslauer Ereignisse voraussetzen.

Grüsse bitte Deine Frau Mutter, u. Dein Fräulein Schwester. D.E.

 

Freiburg i/B d. 14.  Juni 1920.

 

p.s.2

Was macht die hebräische Sprachschule in Breslau?

 

Quelle:

Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung der jüdischen Nation, Hamburg 1997: Europäische Verlagsanstalt, Anhang, S. 327-332 (mit Beibehaltung der Transkriptionskennzeichnung Hackeschmidts (unterstrichen = kursiv; durchgestrichen = mit Längsstrich abgegrenzt; unleserlich = [?]), jedoch ohne die dort vorgenommene Kennzeichnung von Fehlern und Ergänzungen in eckigen Klammern).