den
20. 6. 1921
Lieber
Martin!
»Ich
keime, so sagst Du, und erfuhr schon oft als ein typisches Bild den Anblick von
klugen Menschen, von Menschen also, welche die Beziehungen des wirklich Seienden
klarer, als man es sonst gewohnt ist, zu durchschauen vermögen; und ich nahm
wahr, dass alle diese Menschen, denen doch um der Kraft ihrer Einsicht willen
eine erhöhte Verpflichtung zum Guten zugemutet werden dürfte, mit Thomas Mann
zu reden, moralisch ein wenig anrüchig sind.« - Diese Erfahrung ist es, wenn
ich Dich recht verstehe, um derentwillen Dich Platos Gedanke, das Wissen um die
Idee verbürge ein Leben gemäss der Idee, ebenso wie vermutlich Kants Theorie
des Handelns nicht befriedigt. Und so verstehe ich Deine Frage, ob Du es nun
wolltest oder nicht, in einem Sinne, der mir ihre besondere Motivierung als
Inhalt eines Briefes an mich erklärlich
macht, nämlich nicht allein als interesseloses Ersuchen um Auskunft von dem
theoretisch vollbewanderten Manne, sondern als eine zwar weit über das Persönliche
hinausreichende, aber dem Anlass nach persönliche - negative - Einsicht, oder,
wenn Du willst als eine Einsicht in das Negative von Personen der Art, wie sie
die Formulierung der Frage oben zu verstehen gab. Nehmen wir sie also mit
solchen Vorbehalten immerhin zum Exempel.
Nun
weisst Du vielleicht, dass mich in der letzten Zeit wahrhaftig nicht nur als
eine theoretische Arbeit, sondern als eine Frage, die mein leidenschaftliches
Interesse in Anspruch nimmt, jenes Rätsel beschäftigt, dass man kurz als das
Wesen des Einzelnen, aristotelisch gesprochen die ουσία,
das eigentlich, wesentlich Seiende des Menschen dem Individuum voraussetzt. Und
Du wirst selbst fühlen, wie sehr einem jedes deutliche Wort entschlüpft, wenn
man versucht durch irgendeinen einzelnen Satz, eine einzelne musikalische Phrase
aus der Analvse des Ganzen heraus zu erweisen: hier liege Platos, hier Mozarts
Eigentümlichstes. Das alles ist doch aus dem Bereiche des »Etwas« genommen.
Woher aber weht uns der Geruch jenes Einzigartigen, jenes ganz Einmaligen an,
das wir empfinden; wenn wir sagen: Plato, Dante, Giotto, Beethoven und Goethe?
Wo wir auch immer mit Worten hingreifen, stets erschliessen wir nur, stets
entzieht sich den Tieferdringenden wieder der geheimnisvolle Kern, die alle Veränderungen
überdauernde Substanz des Individuums. »Geprägte Form, die Iebend sich
entwickelt« Bis dahin gelangte Goethe. Ich habe die Sehnsucht weiter zu
gelangen. Und schliesslich betrifft das nicht nur ein Individuum, sondern, sieht
man nur ganz in die Weite, so liegt hier ebensogut der Geist der Nationen, am
Ende auch der Geist der Menschheit in seiner Eigentümlichkeit als ein πρόβλημα,
nämlich als ein dauernden Vorwurf unserer Vernunft und Tage. -
Da
nun eigentlich alle Fragen, die mich beschäftigen in merkwürdiger Weise in
meinem letzten Aufsatz vorweggenommen, geeint und richtiggestellt, im Keime also
gelöst sind, so wirst Du Dich hier wieder einen Angenblick lang seiner erinnern
müssen. Denn ich bin geneigt, die ουσία
des Individuums, die Einzigkeit des Ich allein aus der Begegnung mit dem Du und
dem Etwas erwachsen zu lassen. Die Einzigkeit des Einen gibt Kunde von seinen
Grenzen gleichsam seitlich gegen den andern: diesen und jenen, nach
Vergangenheit und Zukunft nach oben und unten hin
Grenzen seiner Endlichkeit im Flusse der unendlichen Idee. Das Ich ist
allein durch das Nicht-Ich: Zu neuer Geltung gerät hier Platos Gedanke, die
platonische Methode besser gesagt, dass das Nicht-Sein das μή
όν (nicht das
ούκ όν)[i]
ist, dass das Sein nur ist durch das Nicht-Sein. Das ist Platonische Dialektik.
So versöhnen sich also am Ende nun Individuum und Idee; denn die Idee ist nur möglich
als die Einheit der Iche, der tausendfältigen Ich u. Du. Jene aber nicht ohne
ein Etwas, das sie meinen, wollen und glauben.
Alle
diese Gedanken sind nur noch der Methode nach platonisch. Wer auf solche Weise
Individuum und Idee als gegenwärtige Bedingungen ihrer Möglichkeit erkennt,
der gelangte weiter als Plato; denn er widerlegte was als dogmatischer Schimmer
stets noch über dem Haupte jenes ruht: die Möglichkeit des Für-sich-Seins,
der Absolutheit beider. Macht er
kennzeichnender Weise die da-seiende Existenz der Idee jenseits der Erde
wahrscheinlich, so quälen wir uns mit dem Für-sich-Sein des Individuums in der
Tiefe als dunkle Wesenheit. So will ich Dir noch ein Wort über den stärksten
Anlass zur Annahme occulter Qualitäten sagen: Über die Anlage. Gewöhnen wir
uns einmal ab zu fragen, wie sie entsteht (welches ja letztlich zu jener höheren
[?] ins Reich der Metaphysik führenden, oder der ganz u. gar unsinnigen Frage
nach der Entstehung des Bewusstseins überleitet) so ist es im Grunde das
einfachste von der Welt zu begreifen, dass wir etwa mit dem Urteil, jemand sei
von Natur klug, die Beziehuhgen eines Menschen zum Etwas, mit Bezug auf die
gleiche Beziehung andrer Menschen auszusagen wüssten. Derart erweist sich die
Dreiheit von Ich u. Du und Etwas, welche zur Einheit wird, darf ich einmal so
leichthin reden, durch das Medium des Denkens, durch die Einheit des
Bewusstseins, welche als Gesetzlichkeit alles gleichermassen bestimmt und in
Gedanken der Verständigung erst die Verschiedenheit der Individuen möglich
macht.* VöIlig gleiche Seelen sagt Plato etwa, wären stumm, sie hätten sich
nichts zu sagen. Sie wurden nicht einmal denken können, müssen wir hinzufügen.
- Das Gleiche ließe sich von der Phantasie, von der Schönheit, von der
musikalischen Begabung die sich ja nach Normen richtet erweisen. Alles das
bezeichnet Grenzen. Im Gedanke der Begrenzung aber liegt Positives und
Negatives, Sein und Nicht-Sein gleichermassen. -
Deine
Frage nun, Martin, enthält ein Motiv, welches ohne alle diese Voraussetzungen
nicht zu erörtern war. Jener für unsre Zeit nur religiös zu verstehende
Glaube an das beinahe körperlich Seiende, inhaltlich festgelegte und bestimmte
Gute, welches gleichsam im Himmel für ewige Zeiten fertig aufgezeichnet ist,
ist heute nicht mehr platonisch allein zu nehmen, sondern ist eine Componente,
welche den Gedanken an Gott, der um Gut und Böse weiss, um dessentwillen man
gut handelt, ein Gedanke, der für unsere Zeit typisch und aus ihrem vom Bilde
garnicht mehr auszurotten ist, in sich trägt. Und auf dieser, wie man gestehen
muß recht niedrigen Stufe, ist Einsicht in den Sinn der Idee nicht begründbar,
in der Furcht Gottes gezeigt es zu [?] glauben dass man [?] Gutes zu tun;
Erst
auf jener Stufe, die die Verknüpfung des lch mit der Idee, als eine in beider
Begriffe liegende begreift, welche erfasst, dass der Sinn und die Möglichkeit
der Erfüllung des Individuums in der
durch es selbst gesetzte Idee liegt, ist die Einsicht in die Zusammenhänge des Wirklich-Seienden die Bedingung, welche
allein die Forderung, die in dein Bewusstsein der eignen Freiheit, nach Ideen zu
handeln, ruht, erfüllen kann. Denn tasten wir jenen religiös-dogmatischen
Begriff des Guten sorgfältig ab, so bleibt, was abzuweisen auch Deiner Frage
gegenüber vielleicht nicht überflüssig ist, ihre Beziehung zu dem Gedanken
von der Begründung des Guten durch eine fremde, nicht menschliche Existenz, aus
Zielsetzungen, die uns verborgen, als ein noch leise fühlbarer Untergrund erwähnenswert
und damit also jegliche Nuance der Heteronomie auszuschalten:
War
es nun oben eine erkenntniskritische Feststellung, dass es auch nicht das
geringste Stück von einem Menschen geben könne, welches anders als nach Ideen,
sinnerfüllt sei es auch der Begründung nach ein Unsinn** die Hand bewege, so
wird es ethisch gewendet nun eine unabweisbare Forderung, das Handeln als
Handeln richtig zu begründen kraft einer Einsicht d.h. gut zu handeln. Und so
wird die Einsicht notwendig zur Voraussetzung der Richtung auf das Gute.
Verstehe mich recht: Ob die Einsicht allein schon ein Gutes handeln verbürgt,
dass will ich hier noch nicht entscheiden. Aber dass es ohne Einsicht keine gute
Tat gibt, das behaupte ich. Denn etwas ist nur dann gut getan, wenn es nicht ein
Rätselraten nach dem Willen Gottes ist, sondern selbst als Gutes begründet und
gewollt wird. - Noch einen zweiten Fehler legt Deine Frage nahe: das Gute als
etwas Endliches heute und morgen Erreichbares. Die Idee ist etwas auf das, nach
dem das Handeln sich richtet. Das
Gute ist das unendliche Ziel eines endlichen Strebens. -
Nun
wirst Du vielleicht meinen, es sei also doch aus der persönlichen Frage eine
erkenntnistheoretische Abhandlung geworden. Keine Angst, ich vergesse die Anrüchigkeit
nicht. - Was aber liegt nun eigentlich vor? Du wirst mich jetzt verstehen: Der
Kampf zwischen lndividuum und Idee, deren Versöhnung ihrer principiellen Möglichkeit
nach wir oben feststellten, bricht nun hier auf tieferer Stufe von neuem
aus. Die persönliche Lust
streitet als Zielsetzung des Handelns mit der Idee. Fragen wir nun aber wo
dieser Kampf der Ziele sich abspielt, so gibt es nur eine Antwort: Im
menschlichen Denken. Ich erinnere mich hier einer Stelle im Protagoras, wo das
sehr verwandte Bildungsproblem von der Lehrbarkeit der Tugend erörtert wird; da
sagt nun also Socrates etwa: ob man der Sucht des Ich oder der Idee nachgibt,
das sei lediglich eine Frage der Einsichtsweise; denn man müsse auch die aus
der nächstliegenden Lust entspringende Unlust oder Lust, aus dieser wiederum
Lust oder Unlust als FoIge überschauen. Und - ich weiss nicht mehr ob er das
noch sagt - die Entscheidung müsse schliesslich nach der Bilanz der Lustsumme
fallen. Das ist Hedonismus, sagst Du? Nun, wir wollen einmal sehen.
Eigentlich
ist Deine Frage ja schon beantwortet. Die
Entscheidung über Gut und Böse, πράξις (Tun),
kann nur in der Einsicht fallen. Wo denn sonst? Nur die Kurzsichtigkeit
verkennt, dass die Vergnügung der Ichsucht dauerlos ist und also die Gefahr
raschesten Umsturzes, Mangel an Möglichkeiten und Mitteln als schlimmes
Gespenst, als das einzig Bleibende ihr zu Häupten ruht. Das ist die Bilanz der
Lustsumme auf der Ichseite. Kein Mensch, der Einsicht in die Unsicherheit dieser
Art Leben hätte könnte es
ertragen. Der Entscheid für das nächstliegende Vergnügen, da er das Leben
sinnlos macht und der Idee beraubt, ist nichts als ein Mangel der Vernunft. Und
es scheint allerdings begründet in einer Wirtschaftsordnung, welche die
Bedingungen des täglichen Lebensbedarfes, die Möglichkeit nicht zu verhungern,
dem Streben nach der Idee aufs schroffste entgegensetzte, da sie das Ich von der
Idee und damit das Ich und das Du trennt und damit die Entscheidungen des
Handelns auf die Seite des Bösen zerrt.
Ich könnte diese Oberflächenstufe der Menschen noch sehr weit verfolgen. Der Litterat, der die Sehnsüchte seines Ich auf die Ethik projiziert um in der schlechten Welt von ihrer Verbesserung wenigstens träumen zu können, ist ihre entwickeltste Form. Und er entscheidet sich in seinem Tun schließlich für das Café, weil er die ldee nicht erkannte: er ist Relativist. Da hast Du das entscheidende wieder: den Mangel an Einsicht.
Aber
das alles ist nun erst vieles um Deine Frage, vieles, was zu lösen
notwendig ist.
Ihr
Kern bleibt noch hart, wenn man durch Deine allgemeine FragestelIung, die ja möglicherweise
schon beantwortet wäre, hindurchdringt, auf die gemeinte Frage, die ich am
Anfange ausdrückte. Denn man könnte antworten: Entscheidung für die Ichsucht
sei stets Mangel an Einsicht in den Sinn der Idee, die zumeist als der dem Ich
wesensfremde Zwang eines seiner Absicht nach unerforschlichen Gottes empfunden
wird. Sie erkannte nicht, dass Ideen, dass die Idee in Wahrheit die bestimmende, wahre und einzige Realität,
das ούτος
όν[ii]
ist, ein Gedanke den man bei Plato zwar liest, aber nicht in seiner ungeheuren,
immerwährenden Aktualität erfasst, dass sie allem Sein, Handeln und Geschehen
die Richtun, gibt, dass sie es richtet. -
Du
aber fragst nun, ob denn selbst Menschen, die um die Idee wissen, die dem Wesen des Guten nachforschen, so wie ich es
hier tat, notwendig von Ichsucht frei sind. Nicht wahr, das ist doch Deine
Meinung? Und man könnte ja allerdings hier schon, wenn auch nicht eben sehr
eindringlich, antworten: Kein Mensch sei ganz vollkommen; denn es richte sich ja
das Streben des Endlichen auf ein Unendliches. Versuchen wir indessen tiefer zu
gelangen. Suche ich den Sinn dieser Frage nachzutasten, so lebt in ihr
die Objectivität der ldee in irgend einer Art als etwas dem Subject, dem
lndividuum entgegengesetztes. Auch der Tisch, der Baum und die Wolke ist
schliesslich trotz aller Besitznahme durch die Wissenschaft etwas dem Individuum
Fremdes. Ich bin gezwungen zu sagen:
der Tisch ist braun; ich muss anerkennen, ob ich will oder nicht: der Baum ist
grün. Sicherlich sind diese Gegenstände der Erfahrung kathegorial bedingt. Der
Verstand bestimmt sie bezieht sie aufeinander. Aber, wenn ich es so sagen darf,
die Kathegorie ist wiederum durch die Erfahrung bedingt. Hier liegt das Problem
des Ding an sich und wir wollen diese Frage, die allein in der Idee zur Lösung
kommt, hier als einen Abweg für
uns offen lassen.
Das
Gute zu tun aber, dazu kann ich im Gegensatz zu der Meinung, dass der
Tisch braun sei, durch nichts, durch gar nichts auf dieser Welt gezwungen
werden, als durch meine Einsicht. Es wird allein geboren von Gnaden der
Vernunftidee. Es ist frei, durch nichts bedingt als sich selbst, es ist im
Gegensatz zu der
Hypothesen-behafteten Natur das ανυπόθετον,
reines Erzeugnis des Geistes, dass er selbst, um seiner selbst willen sich
entgegenstellt. Aufs neue verschmelzen Individuum und Idee zu einer letzten
untrennbaren Einheit, in der das Eine nur durch das Andre ist. Und diese Einheit
hat nun in der Sphäre in der wir leben höchste Wirklichkeit gewonnen.
All unser Streben will von dem los kommen, was Plato, ich glaube im Gorgias, als
die grösste Sünde bezeichnet: die άγνοια.
Das ist von jemandem gesagt, der nicht nach der Idee hin will, weil er noch
nicht weiss. Die Zustandsbezeichnung: Unwissenheit sagt dafür gar nichts.
Socrates, mit Hönigswald zu reden »weiss.ja, dass er nichts weiss.« Aber in
diesem wohlbegründeten Nicht-Wissen liegt grade der Gedanke des Strebens nach
Wissen, nach der Idee.
Lieber
Martin, der Brief, unmittelbar nach Empfang des Deinigen bis hierhergeführt,
blieb aus einem sachlichen Grunde liegen. Die Durchsicht lehrte mich (erstens,
dass Du ihn nicht wurdest lesen können/Klammer zu) zweitens aber, dass ich von
Idee und nochmals von der Idee rede, ohne, fürchte ich, sie derart zur
vollkommenen Klarheit für Dich gebracht zu haben, wie es das Folgende, was ich
zu sagen habe, erfordert. Nun, nach einer Anrufung der hilfreichen Göttin
Athene und des von ihr so hochbegnadeten Plato habe ich wieder Mut gewonnen den
Bericht über die θεωρία,
die heilige Schau der Ideen, zu Ende
zu bringen. - Aber ich will Dir etwas von Socrates erzählen, das wird am
deutlichsten sein: Socrates also steht vor seinen Richtern und Geschworenen und
spricht zu ihnen, wie sie es empfunden haben müssen, in einem unbegreiflichen
Hochmut: »Wenn ich Euch, Heliasten, durch eine ψυχαγωγία
von der Wahrheit, wie Ihr sie selbst seht, abzulenken versuchen würde, dann würde
ich mich der ασέβια
schuldig machen, der ich angeklagt bin. - Und da es mir an dem einen Tage, den
die Verhandlung nach den Vorschriften in Anspruch nehmen darf, unmöglich
ist Eure Einsicht zu bessern, - liesset Ihr mir etwas längere Zeit mit Euch zu
reden, würde mir das nicht schwerfallen, können wir beide nicht anders
handeln: Ihr als mich zu verurteilen, ich aber: als Euch zu folgen.
Da steht also Socrates, der Mann, der nie etwas wieder sein besseres Wissen tat, der stets sein Handeln nach Ideen richtete. Und obgleich er als einziger, als erster auch, der Erkenntnis nachlebte, die als Erkenntnis auch uns wieder vollkommen lebendig geworden ist, dass im Sinn des Handelns gemäss der Idee (des Guten), der Sinn jeglichen Seins überhaupt beschlossen liegt (welches Princip man nun theoretisch den Primat der praktischen Vernunft, das Gute als Spitze der Ideenpyramide oder in unsrer noch recht minderwertigen Sprache: ein Mensch müsse ehrlich sein nennen mag) so liess er sich dennoch, von Menschen, deren Einsicht er als gering empfand, nach Gesetzen, die er für falsch halten musste verurteilen. Hier liegt ein Conflikt der Einsicht, der als Conflikt dargestellt, ohne dass ich den Willen habe, ihn hier zur Lösung zu bringen, jene am Anfang gestellte Frage allein in der Tiefe zu befriedigen vermag. -
Socrates
sagt, dass das Gute tun auch das angenehmste sei. Was ist daran so fremd? Auch
wir sind ja zu einer Lebensart gelangt, die keine Lust und Freude kennt,
welche Ideenfern ist, ja welche nicht gemäss Ideen zu rechtfertigen wäre. Du
weisst, dass auch das nicht einer prahlerisch hervorgehobnen Anlage, sondern
allein der fortschreitenden Klarheit der Einsicht zu danken ist, welche das Café
vergnügungslos macht, Fox, Gesellschaft und Dämchenerotik peinlich weil sie
sinnlos ohne Wert nämlich ohne Objektivität der nackten ideenlosen
Individuallust dienen.
Dass das Glück allein in der Gefolgschaft der Idee aufwächst dass ist ein Wort, welches man nur ganz selten aussprechen darf und nur für jemanden, der nicht mehr fähig ist, vor sich selbst die Idee um des Glückes willen als erstrebenswert zu rechtfertigen (Was der Aktivist tut) und so die Reinheit der Idee zu verfälschen. Und auch hier wäre dieser Gedanke unausgesprochen geblieben, wenn er nicht jenen heimlichen Beigeschmack, welchen die Idee und der Idealismus durch den Geist des Christentums an sich zog, benehmen würde, als verlange die Idee notwendig Askese und Selbstaufopferung unter der zwingenden Norm des fremden Gottes. Vielmehr ist in jedem Belange und nach welcher Seite man sich auch wenden möge mit der Idee allein die Erfüllung des Individuums gesetzt. Umgekehrt aber verlangt nun auch, darf ich mich einmal so ausdrücken die ErfüIlung der Idee das Individuum. Spürst Du, dass die Scenerie wechselt? Wir sind in der Geschichte, in der Politik. Aus der Ethik sind wir mit einem Schlage dahin hinabgestiegen, wo sie Sinn gibt, und durch die Bewährung Sinn empfängt.
Durch
die Einheit der Idee, auf die Denken und Streben, sei es künstlerischer,
wissenschaftlicher, religiöser oder rechtlicher Natur stets bezogen ist wird es
aus seiner Vereinzelung erlöst zum geschichtlichen Denken und Streben. Und wie
jedes Menschen Sein gebunden ist an die Norm der Ideen, denen verhaftet sich der
einzelne gesetzmässig bildet, ohne je, in unsrer Sprache zu reden, von Niveau
zu Nivau springen zu können, so ist er auch, in einen grösseren Zusammenhang
gestellt, gehalten durch die Logik der Ideen (auch der künstlerischen, die ja
in ihrer Art genau so Gesetzen untertan d. h. normiert, in eigentümlichem Sinne
»logisch« sind, wie jede andre
geschichtliche Idee), die im Verlaufe der Geschichte bis zu ihm hinanführen.
Und so erhält mit eins der Gedanke an das Bewusstsein seiner selbst einen
vollkommen neuen Sinn. -
Socrates
kannte allenfalls ein Selbstbewusstsein in dem Sinne, dass das Gute unweigerlich
bedarf eines einzelnen Ich, welches
ihm gemäss handelt. Das ist der pädagogisch-ethische Bgr. des Individuums, und
um dieser geschichtslosen weniger unendlichen, als ewigen Idee willen trinkt
Socrates den Schierlingssaft. Ringsum uns kennt man das Individiuum als ein aus
geheimnisvollem Wesen heraus »für sich« handelndes, als eine qualitas occulta,
von geheimer Seele angetrieben, wie einst auch der Kugel, die fäIlt, eine »Seele«
als Antrieb beigelegt wurde.
Unsre
Seele aber, unser innerstes »Selbst« erkennen wir, nicht allein ethisch als
eine unendliche Aufgabe. sondern darüber hinaus den inhaltserfüllten Sinn
dieser Aufgabe aus der Geschichte,
die uns in dieser eigentümlichen, individuellen Gestalt möglich machte. Das
Selbstbewusstsein ist Bewusstsein der Idee fand Bewusstsein der Geschichte der
Ideen. -
Und
es ist nun eben die Frage, die ich aufwerfen möchte, ohne dass sie an dieser
Stelle schon zur Antwort reif gemacht ist, ob jemand, der nicht nur um die Idee
bemüht ist, sondern auch in der Erfüllung von Ideen seine geschichtliche
Aufgabe erkannte, so handeln kann, wie Socrates. Denn er, der es über dies noch
verschmäht hatte schreibend seinen Ideen Dauer zu verleihen, ging in der Tat
vergessend dass er als einziger das Wissen hatte, und zwar nicht ein totes und
ganz lebloses Wissen, sondern eines, das allerorten im Leben wirksam, nämlich
wirklich zu werden verlangte, um erfüllt zu sein. Vergass er da nicht,
in dem er sich selbst aufgab, seiner geschichtlichen Aufgabe? Darf ein
»Führer« jemals sich selbst ausser acht lassen? Handelt er nicht immer
um der Idee willen, wenn er um seinetwillen zu handeln scheint? Das ist eine
Frage, mehr soll es zunächst nicht sein. Und die Antwort: bleibt aber Dir überlassen.
Aber Du
fühlst nun, wie auf einer Stufe, wo zum ersten Male wieder die Idee drängend
wird, notwendig nun auch, mit dem nun erworbnen Wissen um die Geschichte, das
Bewusstsein des Ich als eines von der Idee geforderten Trägers, ganz und gar
umgestaltet, aber auch gerechtfertigt, stärker wird, als es bei Socrates der
Fall war, Und nun gar in unsrer Zeit, muss jeder sich um so mehr aIs Ich fühlen,
je strenger er die Idee über sich spürt und in ihrer Erfüllung seine
Aufgabe sieht. Mit sich, durch sich
setzt er ja die, Idee durch.
Und
nun bitte ich Dich: nimm das alles nicht für mehr zunächst, als für eine im
besten Sinne psychologische Antwort auf Deine Frage. Ich will und kann heute
nicht mehr geben. Was darumherumliegt, die Frage der Politik, der Meyerschen »Metaphysik
des Volkes«, als »Tradition« alles aber gefüllt mit der ernstesten Aktualität,
scheint es auch dem Ausdruck nach noch so »theoretisch«, das wirst Du wohl
verspüren. Und auch in welchem
Sinne es eine Antwort auf Deine Frage nach der Ich-Sucht des Einsichtigen ist
verstehst Du wohl. Nicht: als gebe das hohe Wissen die Freiheit zu sündigen, -
Du begreifst mich wohl recht - will ich verstanden sein. Sondern vor allem, um
den Gedanken des Führers zu vertiefen, schrieb ich. Denn damit ist alles kurz
aufs neue gesagt. Wie in ihm sich sittliches mit geschichtlichem Bewusstsein
verbindet, wie er sich immer wieder, nur sich selbst verantwortlich, im Bewusstsein
seiner selbst, das heisst der Geschichte, nämlich seiner selbst gemessen an der
Geschichte, ganz allein und, ich möchte beinahe sagen, einsam seine Aufgaben
zuweist, und kämpfend, nicht so sehr mit anderen und mit seiner Ichsucht (die
auf solcher Stufe ganz unbegreiflich ist, da auch sein »Glück« wahrhaftig
nicht abseits der Idee liegt) als mit seinen Irrtümern, sich bildet, das alles
soll von diesen Gedanken aus gerechtfertigt und gefordert sein. - Und um
sogleich dieser Gedanken Aktualität zu bewähren, so will ich Dir sagen, dass
es stets meine Meinung ist, man müsse dem einsichtigen und
selbstverantwortlichen Menschen, wo er einmal aufsteht, um der Geschichte willen
auch da folgen, sich jedenfalls nicht mit Parteibildung, Parteigefolge gegen ihn
stellen, wo er unsrer Meinung nach irrt. Man wird ihn zu überzeugen
versuchen; aber es darf nur im Gespräch des Führers zum Führer geschehen.
Denn die Person des Führers, dieses Individuum
selbst ist wertvoll, so lange er sich nicht ganz und gar an den Ideen
vergreift, solange er die Einsicht bewahrt, weil es mehr schaden kann, einmal
einem kleingesichtigen Parteimanne, der im Herzen unklug, uneinsichtig und
unveranhvortlich ist zu folgen und Macht, Einfluss einzuräumen, wenn er durch
Zufall in der richtigen Richtung
geht, als zehnmal dem irrenden, dem ehrlichen und einsichtigen Führer, der
notwendig, solange er nicht grössenwahnsinnig ist, der einsichtigen Meinung
anderer von ihm als »Führer« erkannten und ihren Gründen zugänglich sein
muss.
In
der Sache selbst stimme ich W M etwas mehr zu, als Du. Doch da ich meine
Kenntnis der Sachlage als unzureichend empfinde, bleibe alles nähere dem Gespräche.
In
der Hoffnung, dass dieser Brief beides getan: die Idee vorwärtsgeführt, Dir
aber Freude gemacht hat, grüsst Dich herzlich
Dein
Norbert
Elias
Abschluss:
d. 20. Juni 21
p.s.
entschuldige die Schrift. Aber ich konnte nicht noch abschreiben. Kannst Du
etwas nicht lesen, so entziffre ich es in 4 Wochen.
* (Fußnote Elias) Auch Anlagen haben Geschichte, Kultur: weise ist etwas anderes als σώφρων u. sapiens.
**
(Fußnote Elias) d.h. in jedem Falle ein Irrtum der Einsicht.
Quelle:
Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung der jüdischen Nation, Hamburg 1997: Europäische Verlagsanstalt, Anhang, S. 332-341 (mit Beibehaltung der Transkriptionskennzeichnung Hackeschmidts (unterstrichen = kursiv; durchgestrichen = mit Längsstrich abgegrenzt; unleserlich = [?]), jedoch ohne die vorgenommene Kennzeichnung von Rechtschreibfehlern und von "logischen" Ergänzungen in eckigen Klammern. Die nicht immer völlig geglückten Transkriptionen Hackeschmidts griechischer Begriffe mit lateinischen Buchstaben wurden rückgängig gemacht und das originale griechische Wort wieder eingesetzt, wenn nötig auch neu erläutert).