Dr. Norbert Elias 

 

1 University Street 

London W C 1 

3.Juni 38 

 Sehr geehrter Herr Doktor, 

ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief vom 13. Mai und für die freundlichen Worte über meine Arbeit. Entschuldigen Sie die Verzögerung meiner Antwort. Ich war sechs Wochen auf einer ziemlich anstrengenden Vortragsreise und komme erst jetzt wieder etwas zur Ruhe. 

Lassen Sie mich sogleich zu einem der zentralen Punkte dessen kommen, was Sie mir sagen. Es gibt da ein Missverständnis: Abgesehen von den einleitenden Bemerkungen, die Sie kennen, enthält meine Arbeit im zweiten Band so wenig wie im ersten methodologische Betrachtungen. Wie sich der erste Band in der Hauptsache mit bestimmten konkreten psychischen Prozessen beschäftigt, so befasst sich der zweite Band mit konkreten gesellschaftlichen Prozessen, die jene psychischen in Gang setzen. Mir scheint, dass besser als alle methodologischen Auseinandersetzungen - von denen wir, ich bin sicher, Sie und ich sind in dieser Hinsicht kaum verschiedener Meinung, in Deutschland mehr als genug gehabt haben - zeigt die Praxis, die konkrete Forschungsarbeit, wes Geistes Kind jemand ist. Und ich bin ein wenig erstaunt zu sehen, dass Sie mein erster Band im Zweifel darüber lässt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man in ihm ein Beispiel „idealistischer“ Geschichts-auffassung sieht. 

Ich habe zu meiner grossen Freude soeben bei meiner Skandinavienreise gesehen, dass Menschen, die dieses Buch ohne Voreingenommenheit gegen mich lesen, ganz unmittelbar verstehen, worauf es mir vor allem dabei angekommen ist: Ich wollte eine klare Methode und ein unzweideutiges Material finden, das die bisher vorherrschende statische Betrachtung der psychischen Phänomene überwindet. Wer wie Sie und wie ich selbst das Bild des klar strukturierten Gesellschafts-prozesses niemals aus dem Auge verliert, kann sich mit einer solchen statischen Betrachtung des Psychischen, wie sie heute noch bei den allermodernsten psychologischen Strömungen vorherrscht, nicht zufrieden geben. Was immer man unter „Dialektik“ verstehen mag, dieses Wort geht darauf aus, die Ordnung, die Struktur, die Gesetzmässigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen wiederzugeben. Zu zeigen, dass der Aufbau des Psychischen der gleichen Ordnung unterliegt, ist die Aufgabe dieses ersten Bandes. Diese Aufgabe ist heute erst von ganz wenigen Menschen gesehen - darunter zum Beispiel von Erich Fromm -, geschweige denn in Angriff genommen worden. Das ist der Grund, aus dem ich mich an Sie mit der Bitte um eine Besprechung gewandt habe. Ich war sicher, dass Sie zu den Menschen gehören, die kompetent sind, über ein solches Buch zu urteilen. Es ist ein Missverständnis, wenn Sie glauben, es handele sich um eine kulturhistorische Arbeit und Kulturhistoriker seien besonders befähigt, sie zu verstehen. An der Unterscheidung von „Zivilisation“ und „Kultur“ ist schon etwas dran. Und ich habe Beispiele dafür, dass Kulturhistoriker, gewohnt das „Wesentliche“ der Geschichte in der Sphäre des Geistes und der Ideen zu sehen, mit einem sehr geringen Verständnis auf diesen Versuch zu einer geschichtlichen Psychologie blicken, in dem von so simplen Dingen wie Essen, Schnäuzen und von den elementarsten menschlichen Trieben die Rede ist. Vor allem aber kam es mir nicht – wie sooft dem Kulturhistoriker - auf die einfache Sammlung geschichtlicher Data an, sondern auf die Demonstration sozialpsychologischer Strukturen, von deneIn sich unzweideutiger, als es bisher möglich war, die Brücke zu den gesellschaftlichen Strukturen schlagen lässt. 

Noch einmal also: Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich die Mühe machen könnten, diesen Band meiner Arbeit in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ anzuzeigen. Wenn Sie das nicht gern möchten, lassen wir die Angelegenheit auf sich beruhen. Mit Erich Fromm bin ich seit langem ausser Kontakt. Und Sie werden es verstehen, dass ich dieses Buch in keinem Falle zur Besprechung in die Hände eines nicht kompetenten Menschen geben möchte. 

Ich bin 

mit den besten Grüssen 

Ihr sehr ergebner 

    

(Unterschrift: Norbert Elias)