Brief von Norbert Elias an Ernest Manheim in Kansas City, Mo. London, am 9. September 1938


Transliteration and comment by Reinhard Müller [1]

1. University Street, London, W.C. 1.

9.9.38.


Lieber Manheim,
ich habe mich gefreut, auf dem Wege über Herrn [Joseph] Grunwald [2] von Ihnen zu hören. Grunwald ist ein netter Mensch und es hat mir Freude gemacht, ihm hier das eine oder andre zu zeigen.
Von mir selbst ist - leider - nicht viel zu berichten. Ich schwebe noch immer ganz in der Luft. Und das Woburn House [3] wünschte, es wäre mich los - was ich verstehen kann. Eine Vortragsreihe an den nordischen Universitäten, die ich im Frühjahr hielt hat mir viel Erfolg, aber sonst nichts Greifbares eingebracht. Und da das Woburn House drängt werde ich wohl über kurz oder lang in Amerika erscheinen. Ich weiss nicht, ob Sie durch Zufall irgendwelche Anknüpfungspunkte für mich wissen. Das Woburn House wartet, ehe es mir die Reise und vielleicht noch etwas darüber hinaus bezahlt, darauf, dass ich ihm Briefe vorzeigen kann des Inhalts, dass, wenn ich mich eine Zeitlang dort umsehen kann, meine Chancen nicht schlecht sind und dass man versuchen wird mich da und dorthin zu empfehlen. Falls Sie jemanden wissen der mir so etwas schreiben könnte, wäre ich Ihnen dankbar. Falls es nicht geht - ich weiss genau, wie schwierig das alles ist. Die wenigen Amerikaner, denen ich mein Buch [4] geschickt habe, haben mit einer Ausnahme nicht geantwortet. Auch [Louis] Wirth [5] hat nicht geantwortet. Ich weiss nicht genau, wie ich mir das erklären soll. Eine Besprechung des Buches im International Journal of Psycho-analysis, lege ich bei. Eine andre, recht verständige, ist in der letzten Nummer der hiesigen Sociological Review erschienen. Ich weiss nicht, ob Sie einmal in das Buch hineingekuckt [!] haben und ob es Ihnen gefallen hat? Wird etwas aus der Besprechung im "American Journal f[or] S[ociology]"? [6] Jetzt bin ich - ich muss es gestehen - ungefähr in der gleichen Stimmung, in der Sie vor der Abreise nach Amerika waren. Wie geht es Ihnen und Ihrer Frau? [7] Ich bin sicher, es ist für niemanden leicht drüben, aber Sie haben doch wenigstens das aller schwerste schon hinter sich.
Herzlichen Gruss von

Norbert Elias


[1]
Das Original dieses Briefes befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass Ernest Manheim, Signatur 31/1.


[2] 
Joseph Grunwald (*Wien 1920, †San Diego, Calif. 1997), amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler österreichischer Herkunft; emigrierte 1938 in die USA. Anm. R.M.

[3]
Das Woburn House, London, war ein Gebäude, in welchem mehrere Flüchtlingsorganisationen ihren Sitz hatten, darunter das Jewish Refugees Committee; später wurden die Einrichtungen in das Bloomsbury House verlegt. Anm. R.M.

[4]
Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. (Vorabdruck.) [Gräfenhainichen: C. Schulze] 1937. Anm. R.M.

[5]
Louis Wirth (d.i. Alois Wirth; *Gemünden, Hunsrück 1897, †Chicago, Ill. 1952), amerikanischer Soziologe deutscher Herkunft (kam bereits 1911 in die USA); 1926-1928 Instructor, 1931 Assistant Professor, 1932-1940 Associate Professor, 1940-1952 Professor of Sociology an der University of Chicago in Chicago, Ill. Anm. R.M.

[6]
Recte: American Journal of Sociology. Anm. R.M.

[7]
D.i. Anna Sophie (Ann Sophy) Manheim (geborene Vitters; *Osnabrück 1899, †Kansas City, Mo. 1988), seit 1928 Ehefrau von Ernest Manheim. Anm. R.M.