Bielefeld, den 31. 1. 1981

Liebe Christel,

ich habe mich schrecklich gefreut über Ihren Brief und besonders auch über das Bild Ihres kleinen Jungen. Man sieht schon aus der Fotografie, was für ein lebendiger Kerl das ist. Mir scheint, er hat ein bißchen die Augen des Vaters, und es wäre interessant zu wissen, ob der auch einmal ein so erschreckend lebhaftes Kind gewesen ist. Denn wenn man, wie das nun eben so ist, das allzu lebhafte Kind um der Eltern willen mindestens ebenso sehr wie um seiner selbst willen schon recht frühzeitig seiner Intensität entwöhnt - vielleicht allzu frühzeitig -, dann wird daraus leicht ein allzu gesetzter, besonders zurückhaltender Mensch ...

Die Leidenschaftlichkeit des Schauens sollte man sicherlich pflegen. Das hat ja Picasso groß gemacht. Der hat auch die Welt mit den Augen gefressen. Und wenn man sich seine Selbstportraits ansieht, da guckt er einen mit einer Direktheit und Intensität an, genau wie Ihr kleiner Sohn auf dem Foto. Nur bei den meisten Erwachsenen oder, sowie sie älter werden, bei den meisten Kindern verliert sich das eben sehr schnell. Und das ist doch schade. Da hat der Picasso Glück gehabt. Diese Augenlust sollte man fördern. Wenn ich in Berlin wäre, würde ich versuchen, ihm einen Kasten mit starken, frischen Farben, mit Rot, Grün, Blau und versuchsweise Schwarz zu geben, damit er - zum Entsetzen der Eltern - mit dem bunten Allerlei herumplantschen kann, vielleicht in der Badewanne; denn wir sind ja in unseren Wohnungen ganz unkindlich sauber und zivilisiert. Aber vielleicht ist das für Ihren Sohn noch etwas zu früh ...

Ich selbst kann nicht klagen. Nach 83 Jahren läuft der alte Body noch recht gut. Hie und da ein paar Störungen. Aber im Dachstübchen ist die Durchblutung eigentlich noch recht gut. Ich schreibe an den Gatten separat, und da werde ich etwas mehr über die Arbeit zu sagen haben ...

Mit herzlichen Grüßen

Ihr Norbert Elias