Norbert Elias
Zivilisation und Gewalt
Die Zivilisation, von der ich etwas zu sagen habe, ist niemals beendet und immer gefährdet. Sie ist gefährdet, denn um eine zivilisatorische Haltung in einer Gesellschaft aufrechtzuhalten, bedarf es eines verhältnismäßig hohen Maßes an Selbstzucht und es bedarf noch etwas anderem, es bedarf eines hohen Maßes der Pazifizierung einer Gesellschaft. U nd auch die Pazifizierung, die Befriedung einer Gesellschaft im Innern ist immer gefährdet. Sie ist gefährdet durch gesellschaftliche Tendenzen selbst. Und von diesem Gegenspiel von Zivilisation und Gewalt, dem Ineinandergreifen beider, werde ich mit besonderer Beziehung auf deutsche Probleme etwas hier zu sagen haben.
Wenn man das Problem der Gewalt zu untersuchen sich bemüht, dann stellt man gewöhnlich die Frage falsch. Man fragt z. B.: Wie ist es möglich, daß Menschen innerhalb einer Gesellschaft Morde begehen, daß sie zu Terroristen und Terroristinnen werden. Die Frage sollte umgekehrt gestellt werden. Die Frage. sollte gestellt werden: Wie ist es möglich, daß so viele Menschen so relativ friedlich miteinander leben können, wie es in den großen Gesellschaften, in den großen Staatsgesellschaften Europas, Amerikas, Chinas und Rußlands in unseren Zeiten geschieht. Das ist bemerkenswert und das ist einzigartig, das also müßte man erklären. Noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit haben soviele Menschen, Millionen von Menschen, so relativ friedlich, daß heißt unter Ausschaltung der Gewalt gelebt, wie in den großen Staaten und Städten unserer Tage. Das Primäre dabei ist, daß, wenn man in Konflikt gerät, wenn man wütend auf jemanden ist, wenn man Menschen haßt, daß dann Menschen aufeinander losgehen und sich schlagen oder auch ermorden; das Problem ist, wie wir miteinander leben können, obgleich alles noch da ist, die Wut aufeinander, Haß, Gegnerschaft, Rivalität - aber das sich gegenseitig Schlagen und Morden ist ganz in den Hintergrund gekommen. Sie sehen, ich stelle den Brennpunkt anders ein. Heute liegt der Brennpunkt auf den Gewalttätern und man fragt, wie muß man sie erklären. Mein Brennpunkt ist, wie kann man erklären, daß wir so friedlich leben? Nur dann ist es eigentlich nötig, zu erklären, wieso sich Menschen dem Kanon der Pazifizierung nicht fügen, sich dem zivilisatorischen Kanon nicht fügen.
Nun, die Antwort auf die Frage, daß wir relativ friedlich miteinander in sehr großen Gesellschaftsverbänden miteinander leben, ist von der Oberfläche her einfach zu beantworten.
Vielleicht liegt Ihnen die Antwort auf der Zunge. Es ist eine bestimmte Organisationsform, die es möglich gemacht hat, daß wir relativ friedlich miteinander leben. Der Gedanke daran ist zuerst von Max Weber ausgesprochen worden, der Gedanke nämlich, daß die Staaten dadurch charakterisiert sind, daß sie ein Monopol der physischen Gewalt für sich in Anspruch nehmen. Das bedeutet also, daß wir in einer Organisation leben, wo Regierende die Kontrolle über eine Truppe der organisierten legalen Gewalt haben, die dazu da ist, um illegale Gewalt im weiten Raume der Gesellschaft zu verhindern. Ich will sofort sagen, daß diese Monopolisierung der Gewalt, deren Entwicklung ich im zweiten Teil meines Zivilisationsbuches zu verfolgen gesucht 11 habe, eine technische Erfindung der Menschen, wenn Sie wollen, ist, denn es gibt auf dem sozialen Gebiete ganz genauso Erfindungen, die sich allerdings ganz ungeplant entwickeln. Und so hat sich auch diese Monopolisierung der Gewalt erst sehr allmählich und in Jahrhunderten herausentwickelt, bis sie den heutigen Stand erreicht hat und das ist in keiner Weise der letzte Stand. Denn solche Monopole der physischen Gewalt, repräsentiert durch Polizei und Armee, sind, wie so viele menschliche Erfindungen, zweischneidige Erfindungen. Genau wie das Feuer, das auch unser Kochen besorgt, zugleich ein gefährliches Mittel ist, um Häuser in Brand zu stecken; genau wie, sagen wir - die Atomkraft auf der einen Seite uns das ÖL ersetzen kann und auf der anderen Seite zur furchtbaren Waffe werden kann, genauso zweischneidig ist auch die Erfindung des Monopols der Gewalt. Ich will das im Vorbeigehen sagen, ich kann auf diese Seite des Problems nicht eingehen, aber ich stelle fest: es handelt sich um eine selbstgefährliche Waffe und um ein gefährliches Instrument der Menschen. Wir sehen es in allen Diktaturen, wo der Besitz des Monopols der Gewalt zum Nutzen bestimmter schmaler, kleiner Gruppen verwendet wird.
Nichtsdestoweniger beruht unsere Pazifizierung zum guten Teil auf dieser Institution, die selbstverknüpft ist mit dem Steuermonopol, das läßt sich nachlesen und ich brauche darüber im einzelnen nichts zu sagen.
Die innere Pazifizierung, die Tatsache, daß für die meisten von uns auch nicht der Gedanke kommen wird, sich auf eine Schlägerei einzulassen, daß, wie immer wütend wir auch sein mögen, unsere ganze Persönlichkeitsstruktur auf die Befriedung abgestellt ist, hat zum guten Teil mit der Effektivität der staatlichen Gesellschaftsstrukturen zu tun. Unsere Persönlichkeitsstruktur ist darauf abgestellt und wir haben eine gewisse Scheu oder Abneigung, oder Ekel vor dem Gebrauch der Gewalt, und dieser Prozeß hat sich weiter gebildet. In früheren Zeiten - noch im 19. Jahrhundert - dachten Menschen nicht sehr viel darüber nach in manchen Schichten, wenn Männer Frauen schlugen, heute ist das Bewußtsein, daß Männer unter keinen Umständen Frauen schlagen dürfen, oder daß selbst Kinder nicht geschlagen werden dürfen, viel weiter gedrungen, als in den vorangegangenen Jahrhunderten. Die Pazifizierung hat sich nach innen gelegt, wie unsere Persönlichkeitsstruktur.
Ich habe von der Eigentümlichkeit von Staaten gesprochen, zu deren Zentralinstitutionen das Monopol der physischen Gewalt gehört, verkörpert durch Polizei und Armee. Das heißt mit anderen Worten, es gibt in Staaten legale gewalttätige Gruppen und illegale gewalttägige Gruppen.
Aber die Situation ist dadurch kompliziert, daß es auf der zwischenstaatlichen Ebene kein Gewaltmonopol gibt. Auf der zwischenstaatlichen Ebene leben wir heute im Grunde noch genauso, wie unsere Vorväter in der Zeit ihrer sogenannten Wildheit gelebt haben. Das heißt, jeder muß sich umsehen und ist ständig auf dem Quivive, ob er nicht vielleicht eines Tages von einem stärkeren Nachbarn überfallen wird. Es gibt keine übergeordnete Macht, die einen starken Staat daran hindern kann, in einen schwächeren einzumarschieren, ihn sich einzuverleiben, und es gehört zu den Normalfällen des zwischenstaatlichen Verkehrs, daß die stärksten Staaten miteinander in Hegemonialkämpfe verwickelt sind. Z. T. deswegen, weil sie in ständiger Furcht voreinander leben, daß die andere Macht stärker werden könnte. Und so gibt es da das, was ich einen Doppelbinder genannt habe, der gegenseitigen Eskalation der Furcht und der Angst: es gibt kein Zentralmonopol, der irgendjemanden von der Gewalttat abhalten kann, und so sah es in früheren Zeiten auch innerhalb der Staaten aus. Vor dem stärkeren Nachbarn mußte man Angst haben, der physisch Stärkere konnte seine Stärke benutzen, um zu rauben, um zu erpressen, um andere Menschen zu versklaven.
Ich habe eben davon gesprochen, daß hier eine merkwürdige Gespaltenheit durch unsere Zivilisation geht. Unsere Zivilisation, im Sinne von Menschheit - wenn wir das Wort Zivilisation gebrauchen, dann sieht es immer so aus, als ob Zivilisation aus einem Guß wäre, das ist nicht der Fall - wir sind auf einer frühen Stufe der Zivilisation, so will ich mich ausdrücken, im Inneren unserer Staatsgesellschaft. Aber in unseren zwischenstaatlichen Beziehungen sind wir noch auf einer sehr wenig zivilisierten Stufe. Nicht, weil wir böse sind, weil Menschen böse sind, sondern eben deswegen - und hier spreche ich eben als Soziologe -, weil man soziale Einrichtungen schaffen muß, um die Gewalt zu bändigen. Das geschieht nicht von selbst, das geht nur unter ganz bestimmten Bedingungen und ich habe Ihnen eine davon gegeben.
Lassen Sie mich versuchen, das, was ich hier in allgemeinerer Form gesagt habe, durch ein paar Beispiele der deutschen Geschichte zu erläutern, der jüngeren deutschen Geschichte.
Deutschland: manchmal glaube ich, es wäre eine schöne Aufgabe, eine Biographie Deutschlands zu schreiben - as bedeutet, daß, genau wie in der Entwicklung eines Einzelmenschen, Erfahrungen früherer Zeiten in den gegenwärtigen Zeiten einer Nation fortleben. So lebt noch heute in der Entwicklung und in der Gefühlswelt Deutschlands die Tatsache nach, daß Deutschland lange Zeit eine schwache Macht war, niedrig in der Hierarchie der Staaten und infolgedessen, daß deutsche Menschen sich gedemütigt fühlten - vielleicht lesen Sie es noch in den Erörterungen des 17. und 18. Jahrhunderts heraus, wenn Sie sehen, wie sehr diese Menschen empfanden, daß Deutschland schwach ist gegenüber Frankreich, England, Schweden, Rußland, weil es zerspalten war. In der Biographie Deutschlands müßte man dann schildern, wie aus dieser Schwäche heraus, nach 1870, nun als spät kommender Staat die Einheit geschaffen wurde, und im Überschwang das Pendel nach der anderen Seite schwang, nun war man verstrickt in den Hegemonialkampf. Und schon unter dem zweiten Kaiser machte sich der Gedanke geltend, ganz gegen Bismarck, daß Deutschland die Vormacht - nicht genug mit einer starken Macht! - Europas werden muß. Deutschland entwickelte sich mit diesem Schwingen des Pendels zur anderen Seite aus der Erniedrigung in die Erhöhung, zu einer großen Macht. Ich kenne kaum eine Macht, die der Versuchung widerstanden hat, in diesen Kampf um die Hegemonie anzutreten, und sie sind fast alle zurückgeschIagen worden. In dieser Situation geschah etwa, was bis heute nicht ganz klar gestellt worden ist.
Natürlich war Deutschland in der Kaiserzei immer noch vom Adel mit einer starken kriegerischen Tradition geführt. Und da Bürgertum mußte sehen, daß das Ideal der Einigung Deutschlands nicht durch sein eigenen Anstrengungen, sondern von oben, durch den Kriegeradel ihm gegeben worden ist. Und hier passierte etwas sehr Merkwürdiges, was für jeden Zivilisationstheoretiker von Bedeutung ist. Teile des deutschen Bürgertums assimilierten sich an das Kriegerethos. Nie zuvor ist soviel von dem Lob der Macht, selbst von dem der Gewaltat gesprochen worden, als in dieser Zeit. Da man ja durch gewonnene Kriege die Einhei erlangt hatte, zog man die Schlußfolgerung, daß Krieg und Gewalt das Entscheidende in der Welt waren. Nicht das ganze Bürgertum, aber Teile, sehr gewichtige Teile des deutschen Bürgertums nahmen diese Tendenz auf. Wie für den Adel eben der Kriel ein Handwerk war, eine Sache, die man kannte, auf die man sich verstand, so nahmen diejenigen Teile des Bürgertums, die gewissermaßen sich an den Adel assimilierten, eine romantische Haltung zur Gewalt, zur Macht ein. Wenn man die Bücher, und besonders auch die wilhelminische Romanliteratur, wenn man das Duellieren, wenn man die Studentenverbindungen, den Glanz der bürgerlichen Uniformen in dieser Zeit vor Augen hat, dann gewinnt man ein sehr klares Bild von dieser romantischen Verehrung von Gewalt, die merkwürdigerweise ihren stärksten philosophischen Ausdruck in Nietzsche fand. Nietzsche, obgleich er sehr gegnerisch eingestellt war in seinen "Willen zur Macht", hat im Grunde genommen alles gesagt, was in einer weniger philosophischen Form damals die Weisheit beträchtlicher Teile des Bürgertums war. Vielleicht kann ich das, was ich damit sagen will, durch ein Beispiel erläutern.
Ich zitiere Ihnen einen kleinen Auszug aus einem Unterhaltungsroman, Walter Blüm "Volk wider Volk", in dem er dieses wunderbare Erlebnis des 70er Krieges noch einmal seinen Lesern und Leserinnen vorführt. Und da heißt es unter anderem: »Die Frontdirieurs rannten auf Tod und Leben; da stolperte einer, eine Sekunde später schoß Georgs Waffe aus der Seite und schlug darauf ein. Die Leute, die Frontdirieurs, wurden gefangengenommen und nun wurden sie gekettet und im flotten Trabe durch die Pferde weitergetrieben. Wir schlugen ihnen auf das Genick, wir behandelten sie mit Fußtritten.« Und am Schluß steht der Satz: »auch das Weib bekam seinen Teil«. Man hatte längst verlernt, zwischen Mensch und Vieh zu unterscheiden, ein gefangener Feind war nichts als eine wilde, tückische Bestie. Diese Darstellung in einem Unterhaltungsroman, zeigt sehr deutlich, daß man von einem verhältnismäßig weiten Publikum erwartete, daß es diese Wertung teilen würde. Nun, es war in dieser Stimmung, mit der die Menschen in den Krieg von 1914 gingen. Ich selbst habe das ja miterlebt. Und hier will ich Ihnen ein anderes Zitat vorlesen: »Hurra«, schrieb ein junger Jurastudent nach Hause, der einen Monat später an der Marne starb, »endlich gehts ins Feld. Natürlich werden wir gewinnen! Nichts anderes ist möglich für Menschen, die so entschlossen sind, den Krieg zu gewinnen. Meine Lieben, seid stolz, in einer solchen Zeit zu leben, und in einer solchen Nation. Und daß auch ihr das Vorrecht habt, die, die Ihr liebt, in eine so ruhmvolle Schlacht zu schicken.«
Es war damals, wie Sie alle wissen, ein furchtbares Morden, gerade unter den jungen Kriegsfreiwilligen, mit die besten und intelligentesten der jungen Generation fielen damals in diesem Einsatz. Aber, in der Rückschau nach dem Kriege, teilten sich die Meinungen. Es gab diejenigen, die versuchten, den Krieg als etwas Hassenswertes hinzustellen, wie Remarque. Aber unter denen, die den Krieg als etwas Schönes hinstellten, als etwas Wunderbares, war Ernst Jünger. Ich erinnere mich genau, wie ich zum erstenmal mit Schrecken das Buch »In Stahlgewittern« las. Ein brillantes Buch - als Literatur gesehen, ich empfehle es Ihnen zu lesen - aber da steht, was für ein wunderbares Gefühl es ist, mit der Wut im Herzen gegen die Feinde loszugehen, zu töten, wenn man halb im Rausch ist.
Da ist also das Herrliche des Krieges und es ist bezeichnend, daß es sich hier nicht mehr um das normale Kriegerethos des Adels handelt, der das seit Jahrhunderten gemacht hat, sondern um Bürgerliche wie Ernst Jünger, die die Gewalt und den Rausch der Gewalt romantisierten.
Sie alle wissen, was dann geschah. Ein paar Worte erlauben Sie mir doch. Erlauben Sie mir etwas darüber zu sagen, was am Ausgang des Krieges geschah. Wenn wir heute über die Terroristen der Bundesrepublik sprechen, dann - so scheint es mir -, ist es nötig, auch von den Terroristen der Weimarer Republik zu sprechen. Denn gerade aus einem solchen Vergleich, gerade aus der Bedrohung der ja doch sehr hoch gespannten zivilisatorischen Leistung der Weimarer Republik, wird diese ins rechte Licht gehoben, wenn man sieht - was oft in den Geschichtsschreibungen nicht genügend Beachtung findet -, wie hier schon frühzeitig Organisationen entstanden, die unseren Terroristenorganisationen entsprechen. Sie alle wissen, daß in der Zeit zwischen 1918/19 und 23 vielleicht ein halbes Hundert man kann es nur schätzen - Menschen ermordet wurden in der gleichen Weise, wie das heute geschieht. Unter ihnen waren nicht nur Kommunisten und Kommunistinnen, wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht; oder wie ein Schulkamerad von mir, der zu den Vergessenen gehört, Bernhard Schotländer, der mit Stacheldraht umwunden in dem Breslauer Stadtgraben aufgefunden wurde. Es wurde ja auch zum Beispiel Garais, ein bayerischer Abgeordneter, es wurde zum Beispiel Erzberger ermordet. Und dazu die Beschreibung des Mordes an Erzberger, der also von seinen Mördern auf einem Spaziergang im Schwarzwald gestellt wurde und mit den Worten: "Sind Sie Erzberger?" Und als er ja sagte, zückten sie die Pistolen und er zückte seinen Regenschirm, um sich zu schützen, und sie schossen ihn tot.
Die Mörder gingen dann in die Organisation zurück, von der sie kamen, in die Organisation Konsul OC, eine Abspaltung der Brigade Ehrhard, und wurden dort mit Pässen ausgestattet, wahrscheinlich sogar von der bayerischen Polizei, und konnten ins Ausland flüchten. Damals war es ein Terrorismus von rechts, der sich zum guten Teil aus den Freikorps rekrutierte. Und von dem werde ich ein wenig zu sagen haben. Denn man kann diesen frühen Terrorismus, man kann den Terrorismus überhaupt nicht ganz verstehen, wenn man sich nicht ein wenig in die Freikorpssituation hineinzuversetzen vermag.
Damals waren die Terroristen ein reiner Männerbund. Und das ist heute etwas sehr Erstaunliches und etwas ganz Neues, wie mir scheint, daß es auch Terroristinnen gibt. Daß also eine große Veränderung der weiblichen Situation und Struktur sich vollzogen hat, daß Frauen zu Gewalt fähig sind und zur Gewalt greifen. Und zwar nicht als einzelne, sondern als ganze Gruppen! Ich würde glauben, daß man die Problematik, um die es sich hier handelt - in beiden Fällen des rechten wie des linken Terrorismus -, nicht verstehen kann, wenn man nicht sieht, daß es sich in beiden Fällen um eine junge Generation bürgerlicher Menschen handelt. Das ist das Erstaunliche, rechts oder links: die Terroristen rekrutierten sich damals und rekrutieren sich heute, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht aus der Arbeiterschaft, sondern aus dem Bürgertum. Und das ist zugleich auch natürlich, obgleich ich mich nicht anheischig machen kann, hier alles zu erklären, aber ich will wenigstens die Probleme klarstellen! Das ist also das Problem. Und vielleicht kann man das Problem, wie und warum Menschen in einem pazifizierten Staat zur Gewalttat greifen, besser verstehen, wenn ich ein wenig über die Freikorps sage. Die Freikorps waren zugleich natürlich ein Sammelbecken der aus dem Felde zurückkehrenden früheren Offiziere, d. h., das Gros der Freikorps waren Menschen, die in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren waren. Dann gab es eine neue Generation, die sich ihnen anschloß. Es waren, wie gesagt, alles bürgerliche Menschen mit einigen Führern aus dem Adel, wie General v. der Golitz, aber das Gros waren Menschen bürgerlicher Herkunft. Sie fanden keine Aufnahme in der Reichswehr; die Reichswehr war von den alten, zum guten Teil adligen Offizieren befehligt, die kein Interesse daran hatten, die dem Felde zurückkehrenden Massen in sich aufzunehmen. Sie half, wenn es nötig war, aber auf der anderen Seite hielt sie sich die Freikorps vom Leibe.
Die Situation der Freikorps war oft verzweifeIt: Junge Menschen ohne Aussichten auf eine Zukunft. Ihre einzige Hoffnung , daß Deutschland aufrüsten konnte, dann würde es vielleicht ein größeres Heer geben, in das sie hineinkommen konnten. Mittlerweile fochten sie, so gut es ging, an der polnischen Grenze, vor allem aber im Baltikum.
Man sieht hier etwas, was sich immer wieder von neuern abspielt. Junge Menschen in dieser Lage brauchen irn Grunde mindestens drei Dinge; ich will sie kurz nennen. Sie brauchen die Aussicht auf eine Existenz, sie brauchen eine Gruppe der Gleichaltrigen, zu der sie gehören, die ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl gibt, in einer Welt, in der die Generationsunterschiede sehr stark sind - und sie wurden schon damals etwas stärker und sind heute noch stärker - sie brauchen drittens ein Ideal, eine sinngebende Aufgabe, die über das eigene Leben hinausweist.
Für die Mehrzahl der Freikorpsmitglieder war mit dem Zusammenbruch Deutsch!ands gerade das letzte, das, was für sie eine sinnvolle, über das eigene Leben hinausgehende Aufgabe war, verloren gegangen. Und nun geschah etwas sehr Merkwürdiges, das z. T. auch für die heutigen Terroristen gilt: Sie gestanden sich dies nicht ein. Sie träumten, sie erträumten alles, was noch geschehen ist: keine Niederlage ist geschehen, wir sind verraten worden und müssen alle sehen, daß dieser Verrat wieder gut gemacht wird. Ich meine also, daß sie die Leute, die den Versailler Vertrag unterzeichnet haben, zu beseitigen versuchten. Erzberger war einer von ihnen, also erschießen, Walter Rathenow gehörte auch zu den verhaßten Menschen, "gottverdammte Judensau", sangen sie, bis sie ihn endlich getötet hatten.
Hier war hinter den grobianischen Äußerungen, für die es, wie gesagt, eine Tradition gab, die Verzweiflung. Und in derVerzweiflung gingen sie zum Teil in das Ruhrgebiet, wenn es nötig war, zum Teil ins Baltikum. Über das Baltikum will ich etwas sagen, weil das mit das Bezeichnendste war. Vielleicht kann ich es am besten tun, indem ich Sie auf das Buch von Ernst von Salomon »Die Geächteten« verweise. Da ist eine etwas romantisierte, aber doch recht eindringliche Schilderung der Situation im Baltikum und auch der Ziele dieser Generation.
Ich lese Ihnen eine kleine Szene vor. Sie sitzen also da und er schildert, wie er - das waren alles Freikorps, das waren selbstgewählte Führer -, Ernst von Salomon, in einem Hamburger Freikorps war, unter einem Leutnant Wuth. Und er schildert nun die Szene, wie er mit dem Leutnant Wuth in rauchgeschwärzten Räumen sitzt und sie alle träumen, was sie nun tun wollen. Und Leutnant Wuth sagt eigentlich das, was er möchte; er möchte eine Farm, einen Hof sich im Baltikum kaufen und eine Sägemühle da errichten. Also man braucht ja nicht, man will nicht immer Offizier sein, man will eine Familie gründen, man will eine Existenz haben, hier war es ganz konkret, und dieses romantische Abenteuer des Baltikums hatte zugleich auch die Funktion, daß man da Land fand, das man sich nehmen konnte. Daß es eigentlich den Letten gehörte, darauf kam es nicht an; es kam darauf an, daß man es hatte, wenn man es erobert hatte. Dann - er schildert also diese Szene - ging die Tür auf und ein anderer Leutnant kam herein und sagte: Deutschland hat den Friedensvertrag unterzeichnet.
Dann wurde es still im Raum. Im Moment konnte man nichts hören, als die schweratmenden Leute, dann stand plötzlich Schlageter auf - Sie kennen vielleicht noch den Namen, er war einer der Naziheroen, später von den Franzosen erschossen -, stand auf mit einem kalten Haß im Gesicht und sagte: »Was geht das eigentlich uns an ?« und ging aus der Tür hinaus. Und dann schildert Ernst von Salomon: wir fühlten das alle, das ging uns alle eigentlich nichts an, aber dann kam plötzlich ein absolutes Gefühl der Verlassenheit. Der Verlassenheit, als ob unser Land uns verlassen hätte
Hier ist ein sehr merkwürdiger Vorgang. Diese Identifizierung mit dem eigenen Lande als Aufgabe, oder als Bedeutung, war sehr stark. Und dann plötzlich das Gefühl der Verlassenheit, wenn der Versailler Vertrag unterzeichnet wird. Da saßen sie, alles war verloren, die Sägemühle, das Gut, alles war hoffnungslos geworden. Sie fochten weiter, die Regierung rief sie zurück, sie meuterten, obgleich sie nicht den Ausdruck gebrauchten, sie gehorchten den Befehlen nicht, mit dieser Regierung haben wir nichts zu tun! Und Sie sehen die Parallele. Auch die heutigen Terroristen haben einen Ausdruck dafür: sie steigen aus der Gesellschaft aus. Auch hier sieht man die jungen Menschen, die enttäuscht aus der Gesellschaft aussteigen, sich ihren Gesetzen nicht mehr fügen - diese Gesetze sind nicht für uns! Den Ausdruck gebraucht auch Ernst von Salomon in diesem Moment: wir sind frei! Wir haben nichts mit dem zu tun.
Das Schreckliche, was dann geschah, war, daß sie nun mit aller Macht gegen die Bolschewisten, die die großen Gegner waren, gegen die Letten, denen das Land ja eigentlich gehörte, kämpften. Und nun geschah es, daß sie, da ja auch die Engländer Truppen landeten, langsam zurückgedrängt wurden. Und sie erlebten also die Niederlage Deutschlands im Jahre 1918. Aber nun erlitten sie im Baltikum selber eine Niederlage. Sie mußten zurückgehen, sie wurden zurückgedrängt, ihre Kameraden fielen neben ihnen und von dem ganzen Bataillon blieben nur wenige übrig. Und dann, auf diesem Rückzug, brechen sie plötzlich aus in eine Orgie der Gewalttat. Salomon schildert es, aber -das ist belegt! Wir haben viele andere Belege für das gleiche. Er beschreibt es mit Worten, die man vielleicht doch gebrauchen sollte, er sagt hier: »Wir machen den letzten Stoß, ja, wir erhoben uns noch einmal und stürmten in ganzer Breite vor, noch einmal die Letten verjagten wir, und dann, als wir doch zurück mußten, dann wurden wir wild. Wir brannten die Häuser nieder, wir knickten die Telegrafenstangen, wir warfen die Leichen in die Brunnen, wir schlugen, was uns in die Hände fiel, wir verbrannten, was brennen konnte. Wir sahen rot! Wir haben nichts mehr von menschlichen Gefühlen gehabt, wir gingen besengt, wir wurden wild.« Nun, das war nicht nur diese Hamburger Brigade, das geschah auch von anderen. Auf dem Rückzug verbrannten sie alles. Die Presse in Deutschland schrie über diese Freikorps und langsam - und das ist natürlich überhaupt charakteristisch, die Freikorps waren ja zum Teil von der Presse sehr scheel angesehen, sie hatten eine sehr schlechte Presse - wurden sie zu Geächteten. Das zweite große Kapitel von Salomons Buch sind die Geächteten, und das dritte Kapitel ist: die Verbrecher. Hier sehen Sie also, aber deutlich und von innen her, ein wenig die Verzweiflung, das Wegnehmen als Mutter der Gewalttat. Sie sehen auch den Sprung in die Sinnlosigkeit. Man nimmt ihnen weg, was für sie sinnerfüllend war, ihre Zukunft ist verschlossen, die Gewalttat ist das Aussteigen aus der Gesellschaft der Weimarer Republik, ist ihre Antwort. Nur war der Unterschied in diesem Falle, daß sie doch die heimlichen Sympathien weiter Teile der deutschen Gesellschaft hatten. Wenn sie nicht mehr weiter konnten, wurden sie als Landarbeiter auf pommerschen Landgütern untergebracht, das war natürlich eine Deklassierung, aber Gelder kamen ein, sie brauchten nicht so sehr wie heutlgen Terroristen Banküberfälle zu machen, weil bis zu einem gewissen Grade Geldquellen da waren. Sie machten auch Unternehmungen, aber kein Zweifel besteht, daß hier eine BrutaIisierung einsetzte, wo Gewalttat romantisiert und gepriesen wurde. Und viele der Freischärler gingen sofort in Hitlers Lager, als es möglich war, und irgend jemand hat vielleicht nicht zu unrecht gesagt: ohne die Hilfe dieser geschulten Soldaten wäre Hitler wahrscheinlich nicht in der Lagegewesen, seine Herrschaft zu errichten
Also Enttäuschung, Sinnentleerung, Verlust könnt der Zukunft, Verwobenheit in den Traum, von dem ich Ihnen eben nicht genug gesagt habe, dieser Traum, daß Deutschland eigentlich gar nicht besiegt ist, das zahlbare Diktat von den Alliierten. Man dachte gar nicht daran, daß Deutschland selber, wen es gesiegt hätte, auch diktiert hätte, und die Pläne dafür waren da.
Die Unfähigkeit, die andere Seite zu sehen, ist eine der charakteristischen Eigenschaften der Terroristen. Man ist ganz in seinnen Traum versponnen. In diesem Falle kam der Traum für kurze Zeit zur Wirklichkeit, aber eben nur für kurze Zeit, und stellte sich auf lange Sicht gesehen auch nur als ein Traum heraus.
Und die Terroristen unserer Tage -so scheint mir -, folgten auch auf eine Periode der tiefen Enttäuschung. In den 60er Jahren gab es eine im wesentlichen nicht gewaltätige marxistische Bewegung. Es gab das Aufrauschen der Studentenbewegung in Jahre 68 und der Terrorismus setzte dann ein, als in diesem Falle nicht der Traum eines gewonnenen Sieges, sondern der Traum einer gewonnenen Revolution sich als Traum erweist. Von ihm läßt man nicht ab, er bleibt weiter da, man ist dem Traum verhaftet. Wir müssen versuchen, da wir nicht mit friedlichen Mitteln den Traum der Revolution verwirklichen konnten, ihn mit Gewalt zu realisieren. Man kann diese schäbige Republik nicht anders erschüttern als dadurch, daß man sie nun eben, genau wie es vorher der Fall war, ins Boxhorn jagt. Ein wenig benehmen sich ja die Terroristen wie jener Wandersbursche, der zwei Riesen unter einem Baum schlafen sieht und der nun in die Bäume steigt und einen Stein nach dem anderen auf den einen wirft, bis sie sich gegenseitig in die Haare geraten. Im Grunde ist es der Erfolg der Terroristen, wenn das Chaos wächst, wenn die Wut der in der Bundesrepublik lebenden Menschen gegeneinander stärker wird, denn darauf kommt es ja an. Genau wie es in früheren Zeiten den Terroristen darauf ankam, die Weimarer Republik zu zerschlagen. Diese Geschichte muß noch geschrieben werden, die Zersetzung von innen her, durch den Bruch des Gewaltmonopols in der Weimarer. Ich könnte, wenn ich Zeit hätte, viel erzählen, wie eigentlich das Gewaltmonopol damals beschaffen war, wo ja die Regierung eigentlich das Heer gar nicht in den Händen hatt wo die Regierung kein Gewaltmonopol oder nur das ganz beschränkte polizeiliche Gewaltmonopol besaß, wo im Grunde illegale Verbände auf der einen Seite und die tätig und selbstständige Reichswehr auf der anderen Seite das Gewaltmonopol sich teilten. Hier war also eine Regierung, die gar nicht das Gewaltmonopol kontrollieren konnte, und im Grunde ist durch diese Zersetzung von innen durch das Wachsen der Privatarmeen von rechts und links eben die Weimarer Republik zerbrochen.
Heute scheint es anders auszusehen. Jedenfalls kann man auch hier nicht das, was geschieht, verstehen, ohne sich zu fragen, ob nicht in der gegenwärtigen Gesellschaft auch das bis zu einem gewissen Grade eintritt, was ich an den Terroristen der Weimarer Republik zu schildern versuchte: plötzliche Sinnentleerung. Die Zukunft vieler junger Menschen, besonders bürgerlicher Menschen, ist bedroht, sie haben keine Zukunft mehr und sie finden sich in einer Situation der Abdrosselung der Sinnchancen, d. h. der Chancen, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Man sieht das sehr deutlich in den Bekenntnissen des früheren Terroristen Speitel, die im Spiegel veröffentlicht worden sind, wo er ganz klar sagt, daß eines der schwersten Momente, das einen auf diese Bahn brachte, die Gefahr der Deklassierung war, das Herabsinken. Und das ist also, wenn Sie wollen, ein Stück von soziologischer Diagnose.
Die Frage ist, ob es wirklich nötig ist, daß man gewissermaßen nur mit ganz starken Emotionen an das Problem der Terroristen herangeht. Wäre es nicht möglich, aufgrund einer klareren gesellschaftlichen Diagnose zu sehen, daß es nicht einfach nur die Schuld von einzelnen Menschen ist, daß nicht etwa Bücherschreiber, an den Universitäten, also wir, dafür verantwortlich sind, daß es Terroristen gibt, sondern daß es etwas in der Struktur der Gesellschaft ist, das sich in solchen Gewalttaten, in dem Aussteigen ausder Gesellschaft äußert. Und das ist also die Frage. Könnte man nicht mehr tun, um dafür zu sorgen, daß für jüngere Menschen, Menschen der jüngeren Generation die Chancen eines sinnerfüllten Lebens vergrößert werden. Ich denke mit Schrecken, welche Saat aufgehen wird, wenn diese Jugendarbeitslosigkeit weiter besteht. Könnte man nicht mehr tun, um - statt nur mit Emotionen auf diese Probleme zu reagieren, die natürlich nur zu verständlich sind -, doch Einrichtungen schaffen, die es verhindern, daß Terroristen immer von neuern sich rekrutieren können
Gerade ein genaues soziologisches Studium der Bedingungen, unter denen sie neue Rekruten gewinnen, wäre dafür eine Voraussetzung. Schon längst ist die Generation der Terroristen nicht mehr da, die ganz stark politisch motiviert waren. Auch diese Menschen lebten ganz stark in einem Traum, der unerschütterlich ist durch Realitäten oder kaurn erschütterlich, auch das schildert Speitel sehr klar; er ist einer der wenigen, der es irgendwie sagt, wir waren in unserrn Wunschdenken befangen, aber dann plötzich kriegten wir von der Realität eine Ohrfeige. Aber die meisten spüren die Ohrfeige nicht. Viele gehen weiter in ihrem Traum, der nicht mehr politisch stark motiviert ist. Die Sprache ist noch dieselbe, aber die erste Marxistengeneration ist längst nicht mehr da. Die Führer haben Selbstmord begangen in Stammheim, jetzt sind neue Generationen da. Speitel schildert auch das sehr klar: wenn wir lange genug auf der Matratze mit unserem Joint gelegen haben, dann wurde uns das langweilig und wir wollten auch etwas tun.
Ich habe hier einen erwas schwierigen Gegenstand behandelt, aber gerade als Soziologe hat man die Aufgabe, Probleme, die im Zuge der unmittelbaren emotionalen Gegensätze schwer zu behandeln sind, aus der Hitze des Kampfes herauszunehmen und eine Diagnose zu stellen, um zu sehen, ob man nicht vielleicht doch etwas dafür tun kann.
Rede auf dem Deutschen Soziologentag in Bremen 1980
Aus: Ästhetik und Kommunikation (Kronberg/Taunus/BRD: Verlag Ästhetik & Kommunikation), Nr. 10, S. 5-12
Quelle