19. 06. 1997
»Ein Menschenwissenschaftler«

Zum 100. Geburtstag des Soziologen Norbert Elias
Von Thomas Kleinspehn
Produktion RB 1997

 Cut 1: [Elias] Die Arbeit in den Menschenwissenschaften, wie in anderen Wissenschaften, ist ein Fackellauf: man nimmt die Fackel von den vorangehenden Generationen, trägt sie ein Stück weiter und gibt sie ab in die Hände der nächstfolgenden Generation, damit auch sie über einen selbst hinaus geht. Die Arbeit der vorangehenden Generationen wird dadurch nicht vernichtet, sie ist die Voraussetzung dafür, daß die späteren Generationen über sie hinauskommen können. Das ist in meinen Augen die symbolische Bedeutung der Verleihung des Adorno-Preises an mich. Sie belohnen damit jemanden, der, ohne die Verbindung mit der Vergangenheit zu vergessen, sich nie der Autorität der Vergangenheit gebeugt hat. Wenn man sich durch sie in seinem Vermögen, für sich selbst zu denken, beirren läßt, ist man verloren. Mein Anliegen ist es, die Fackel weiterzugeben, also auch den Mut, den Autoritäten der vergangenen und der eigenen Zeit zu widerstehen. Ich möchte nicht selbst zur Autorität werden, an die man sich klammert. Ich möchte, daß mein Beispiel kommenden Generationen Mut macht, das Bewußtsein der Kontinuität des eigenen Lebens mit der Kraft und Kühnheit zu verbinden, die zur Innovation, die zur Zucht des Selbstdenkens, des Über-die-älteren-Generationen-Hinausgehens nötig ist.

Sp. 1: Der achtzigjährige Soziologe Norbert Elias am 2. Oktober 1977 in der Frankfurter Paulskirche. Es ist der Schluß seiner Dankesrede. Die Stadt Frankfurt hatte ihm gerade den Theodor-W.-Adorno Preis verliehen. Für Elias ist es späte Anerkennung für ein wissenschaftliches Werk, das lange Jahre nur Eingeweihten bekannt war. Gleichzeitig rehabilitiert die Stadt Frankfurt und ihrer Universität einen Wissenschaftler, der 1933 aus ihren Mauern vertrieben wurde. Seit den 80er Jahren zählt Norbert Elias zu den wichtigsten Soziologen unseres Jahrhunderts.

Mu : Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 2: Ein Menschenwissenschaftler. Norbert Elias zum 100. Geburtstag, ein Feature von Thomas Kleinspehn

Mu : [wieder hochziehen]

Cut 2: [Korte]Mit dem Adorno-Preis, das ist wirklich ein Durchbruch. Das ist nicht nur der Durchbruch der Anerkennung, sondern das war für ihn auch die Befreiung.

Sp. 1: Hermann Korte, Professor für Soziologie in Hamburg und Vorstandsmitglied der Elias-Stiftung in Amsterdam.

Cut 3: [Korte]Auf dem Bild, wie er den Adorno-Preis in Empfang nimmt - ich bin immer wieder neu gerührt, wenn ich dieses Bild sehe, weil er mit der rechten Hand die Urkunde in Empfang nimmt und einen Scheck über 50.000 Mark und in der linken Hand seine Aktentasche hat und in dieser Aktentasche war der Paß, 10.000 Franken in Reiseschecks, die Badehose und was zu essen - die Badehose, weil er gerade vom Schwimmen kam -, aber auch was zu essen, weil man ja nie wissen kann, was morgen ist, man muß ja immer bereit sein als Exilant, sofort irgendwo hingehen zu können und der Paß dabei sein und etwas Geld. Und erst danach verläßt er, sozusagen nach dem Adorno-Preis. fällt das von ihm ab, dann ist er frei, dann kann er schreiben.

Zit: »Ich bin ein Reisender",

Sp. 2: hat Norbert Elias gegen Ende eines langen autobiographischen Interviews gesagt. Er war gefragt worden, in welcher Sprache er sich zu Hause fühle.

Zit: Ich bin ein Reisender. Ich kann nicht wirklich sagen, daß ich nach Deutschland »zurückgekehrt" bin, denn es war ein sehr allmählicher Prozeß. Ich bin hineingeglitten, so war es immer in meinem Leben.

Sp. 2: Vielleicht kennzeichnet dieser Satz sehr genau das Leben und Wirken des Soziologen: ein Reisender, getrieben von den Zeitläuften eines ganzen Jahrhunderts, das ihn ins Exil treibt und nicht seßhaft werden läßt. Ein ruheloser Suchender zugleich, der rastlos nach den Bedingungen menschlichen Zusammenlebens forscht. Ein Wissenschaftler, der stets den Dialog suchte, ja geradezu auf ein Gegenüber angewiesen ist und doch immer wieder gezwungen war, Gespräche abzubrechen, allein, isoliert zu arbeiten.

Sp. 1: Das machte sicher auch seine Überzeugungskraft aus, seinen ungeheueren Drang, andere von seinen Gedanken einzunehmen: Das Charisma eines Reisenden, der weiß, daß er nur wenig Zeit hat zu überzeugen - bevor der nächste Zug abfährt. Das ist seine Stärke in den Augen seiner Schüler und der Zuhörer, die ihn bei Vorträgen und Diskussionen erlebt haben.

Cut 4: [Korte]Elias war ein großer Performancer, sozusagen in der persönlichen Darstellung hervorragend, wenn man ihn reden hörte, dann war man begeistert und alle seine Rezeptionserfolge, gehen immer auf solche Gelegenheiten zurück, daß er Menschen durch seine Persönlichkeit, seine Honorigkeit, mit der er seine Argumente hervorbrachte, eben nicht dogmatisch, sehr reflektiert, eben überzeugte.

Cut 5: [Goudsblom]Wie charmant er war. Seine Gesellschaft war meistens sehr unterhaltend und lebhaft und freundlich auch. Er hatte eine große Kapazität für Affection. Er war sehr fähig in dieser Art sozialer Kontakte. Es war seine Fähigkeit junge Leute an sich zu binden. Das war weil er ein aufrichtiges Interesse hatte, was diese jüngeren Leute beschäftigte.

Sp. 2: Johan Goudsblom Professor für Soziologe in Amsterdam, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft Elias die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat.

Cut 6: [Schröter]Ich glaube auch, daß durch diese Triebkraft, die aus dem Persönlichen kommt, auch das Ergebnis eine ganz eigentümliche Frische und Überzeugungskraft hat und insofern trägt dieser Zusammenhang, den ich zu sehen glaube, auch sehr dazu bei, daß Elias als ein eindrucksvoller Autor gilt als viele andere, daß er die Leser für sich gewinnen kann, daß er insbesondere auch Nicht-Spezialistische-Leser, nicht nur Fachkollegen gewinnen kann. Für mich ist es eine zentrale Frage, war Elias ein Autor meiner Generation, unserer Generation oder wird er in dreißig Jahren, also von nächsten Generationen auch als Klassiker akzeptiert sein.

Sp. 2: Michael Schröter, Übersetzer, Herausgeber und zeitweilig Assistent von Norbert Elias.

Sp. 1: Dabei erhielt der Menschenwissenschaftler Elias erst in den letzten zehn Jahren seines Lebens wirklich Gelegenheit, seine Fähigkeiten auszuspielen und einzusetzen. Denn erst nach seiner Pensionierung wurde seine Arbeiten bekannt und der Wissenschaftler zu Vorträgen und Diskussionen eingeladen. »Über den Prozeß der Zivilisation", sein größtes, bereits 1939 veröffentlichte Werk, war 1976 als Taschenbuch erschienen. Erst jetzt, 40 Jahre nach seinem Erscheinen, fand diese Arbeit über den Wandel menschlichen Verhaltens in Europa seit dem Mittelalter lebhafte Resonanz. Dazwischen gab es für Elias eine lange Zeit des Wartens, die ihn allerdings selten zweifeln ließ. So zog er bei einem Gespräch in Amsterdam kurz nach seinem 90. Geburtstag Bilanz.

Cut 7: [Elias] Ach, ich nehme das mit großer Gelassenheit auf. Es berührt mich nicht besonders. Ich freue mich natürlich, daß heute mehr Menschen meine Bücher lesen. Aber ich habe selbst immer die genügende Sicherheit gehabt, daß ich mit dem, was ich schreibe, der Soziologie voranhelfen kann, daß ich den Gesellschaftswissenschaften voranhelfen kann, daß ich den Menschen ein realistischeres Bild von der sozialen Welt geben kann, in der wir leben. Das tue ich noch heute. In der Tat, in meinem neunzigsten Jahre habe ich etwa neun neue Aufsätze und Bücher veröffentlicht. Ich muß sagen, es hat mich wenig gestört, daß ich in früheren Zeiten wenig Resonanz hatte. Ich habe mich natürlich darüber gewundert. Ich habe es nicht genau verstanden. Heute verstehe ich es, aber ich gehe mit meiner eigenen Arbeit fort in der Gewißheit, daß ich mehr für die Zukunft als für die Gegenwart arbeite.

Cut 8: [Schröter]Bei Elias war die Resonanz schon ziemlich mager. Es gab ein paar ausgezeichnete Kollegen, wirklich gute Leute, die ihn dann auch bestätigt haben, daß das was taugte, aber ich finde erstaunlich, daß er über Jahrzehnte dieses Gefühl, daß er etwas bedeutendes zu fassen bekommen hatte, daß er dieses Gefühl nicht verloren hat. Und als dann der Erfolg in den 70er Jahren kam, war er irgendwie gar nicht überrascht. Er hat diesen Erfolg eigentlich als das Natürlichste genommen.

Cut 9: [Elias] Während nun, auf einem Mal in Deutschland und auch in den Niederlanden auf einem Mal eine Resonanz da war. Das natürlich bedeutet außerordentlich viel. Ich meine, es ist ja entmutigend, ein wenig entmutigend, wenn man überhaupt keinen Widerhall hat. Der Widerhall kam und regte zur weiteren Produktivität an. Aber diese Gedanken waren zum Teil natürlich im Kopfe. Ich wußte ganz genau, daß ich eine Erneuerung der Soziologie herbeiführen wollte.

Mu : Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 1: 1896 in einer jüdischen Familie in Breslau geboren interessiert sich der junge Norbert Elias schon sehr früh für die konkreten Handlungsweisen und Einstellungen von Menschen. Mehr getrieben, überrascht sieht er sich als Kind und später als Schüler der Realität eines Landes gegenüber, dem sich die gutsituierte Kaufmannsfamilie selbstverständlich zugehörig fühlte. Ein Land, für das er schon als 17jähriger in den Ersten Weltkrieg zog, dem er aber gleichzeitig als Jude nie richtig angehörte. Das behütete Elternhaus und der Antisemitismus außerhalb bildeten einen immer latent vorhandenen Gegensatz.

Cut 10: [Elias] Ich bin von sehr besorgten Eltern sehr eingehegt, einziges Kind und nun noch ganz jung, mit 17-einhalb Jahren wurde ich plötzlich Soldat und ins Feld hinaus. Ich war immer sehr jung für mein Alter und meistens mit älteren Soldaten zusammen. Ich erinnere mich noch sehr genau. Eines Tages, wir waren in der Etappe und ich hatte irgendwo ein Bett, das eines meiner Kameraden gerne haben wollte und am letzten Abend, als ich von der Feier nach Hause kam, hatte er sich schon mein Bett genommen und ich sagte, du gehst hier raus. Und er sagte, ich geh nicht raus, das gehört mir und da gab es einen Krach und wir zankten uns und da plötzlich begann er zu schimpfen »Judenjunge". Was nie vorher geschehen ist, in einer solchen Situation beschimpfte er mich als Jude. Das ist mir sehr in Erinnerung geblieben. Es ging immer sehr gut, ich habe keinen Antisemitismus gespürt, aber in der Krisensituation wird man plötzlich unter den Gürtel geschlagen, denn darauf gibt es keine Antwort.

Cut 11: [Korte]In dem Text, den ich 86/87 geschrieben habe...

Sp. 2: Hermann Kortes Biographie über Norbert Elias

Cut 12: waren mir ja eine ganze Reihe von Informationen noch gar nicht geläufig. Damals habe ich das jüdische Elternhaus, den Ersten Weltkrieg, das Studium der Medizin und der Philosophie und dann das Studium der Soziologie in Heidelberg inklusive einer Zwischenphase in der Industrie sozusagen als die Bausteine seiner intellektuellen Entwicklung beschrieben. Dieser Baustein wird sicherlich ergänzt werden müssen durch eine intensive Tätigkeit in der zionistischen Jugendbewegung. Hier gibt es auch für den Biographen ein nicht erklärbares Phänomen, daß er selber schlicht jede Beteiligung nicht nur verschwiegen hat, sondern schlicht geleugnet hat. Jörg Hackeschmidt, der über den zionistischen Wanderbund Blau-Weiß geschrieben hat, der hat diese Gruppe dort in Breslau, anhand des Tagebuchs von Martin Bandmann, der der Bundesführer von Blau-Weiß von 1920 bis 1924 war, dokumentiert. Und da kann man sehen, wie diese Gruppe von Juden, schon während der Schulzeit, nicht nur in der Schule über Philosophie diskutieren, sondern sie gehen in die Vorlesungen von Hönigswald, nehmen als Oberprimaner schon an Seminaren von Edith Stein teil, gehen einmal in der Woche ins Rabbiner-Seminar, wo Elias wirklich eine führende Rolle in diesem zionistischen Wanderbund spielt.

Cut 13: [Elias] Es ist eine eigentümliche Erfahrung, einer stigmatisierten Minderheitengruppe und zugleich voll und ganz in den Kulturstrom und politisch sozialen Schicksalsgang der stigmatisierenden Mehrheit eingebettet zu sein. Ich kann nicht sagen, daß mich gleichzeitige Zugehörigkeit zu einer deutschen und einer jüdischen Tradition je besonders beunruhigt hat. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich der Herkunft nach ein deutscher Jude bin, ich glaube, man sieht es mir an.

Cut 14: [Korte]Er hat, das würde ich aus meinen biographischen Arbeiten sagen, denke ich schon ziemlich früh als junger Mensch, dazu entschlossen, eine Außenseiterrolle einzunehmen. Interessanterweise findet sich im Tagebuch von Martin Bandmann, dem Bundesführer von »Blau-Weiß", 1921 zu Norbert Elias der Satz: »Norbert ist eben doch 'the outside man'". Das ist insofern interessant, weil er ja dort noch mitten in der zionistischen Bewegung war und auch dort schon eine etwas distanzierte Haltung einnimmt. Das ist das Ergebnis der Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, der Reflexion darüber, ich denke, das läßt sich leicht nachweisen. Und alles, was er dann macht, ist immer so, daß er sich etwas aus den Zeitbezügen herauszieht.

Cut 15: [Elias] Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Erfahrungen, die ich selbst von kleinauf als Jude in Deutschland machte, zu der Anziehungskraft beitrug, die später die Soziologie für mich hatte. Ich habe mir in dieser Hinsicht nie etwas vorgemacht: Kulturell in hohem Maße der deutschen Tradition verbunden, gehörte ich meiner Persönlichkeitsstruktur nach zu einer verachteten Minderheitsgruppe. Obwohl ich mich von deren offensichtlichsten Unterscheidungsmerkmal, der besonderen Religion, losgelöst hatte, fand das Sonderschicksal der Minderheit in meinem persönlichen Habitus wie meinem Selbstbewußtsein und meinem Denken, einen unverkennbaren Ausdruck.

Sp. 1: Nur selten hat Elias das so deutlich formuliert. Wie seine Rolle im Wanderbund »Blau-weiß" hat er häufig auch Zusammenhänge zwischen seiner Biographie und seinen wissenschaftlichen Fragestellungen nicht gelten lassen wollen.

Cut 16:[Elias] Ich meine, ich möchte mich in keiner Weise mit Einstein vergleichen, aber wenn Sie Einstein gefragt hätten, warum haben Sie eigentlich nicht über sich gesprochen oder warum haben Sie eigentlich nicht gegen andere polemisiert, würde er nicht auch gesagt haben, meine Hauptaufgabe war, weiterzukommen, auf dem Wege der Forschung. Und so habe ich meine Aufgabe auch gesehen. Er kam auch aus einem jüdischen Elternhaus. Hätten Sie ihn gefragt, welchen Einfluß das auf eine Relativitätstheorie gehabt hat. Ich jedenfalls kann Ihnen auf diese Frage keine Antwort geben.

Mu : Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 1: Elias kommt erst über Umwege zu seinem Fach Soziologie. So studiert er zunächst Medizin und Psychologie und schließlich Philosophie. Husserl, Jaspers und Hönigswald sind seine Lehrer. Bei dem Neokantianer Hönigswald promoviert er auch über Kant.

Cut 17: [Elias] Ich hatte im Laufe meiner Dissertation entdeckt, daß das Kantsche Apriori eine Fixion ist. Ich stand dann vor der schwierigen Aufgabe, bei einem Kantianer eine Doktorarbeit zu schreiben und doch aufrichtig zu sagen, daß alles wovon Kant sagt, daß es Apriori den Menschen gegeben sei, in Wirklichkeit von Kindheit auf von den Menschen gelernt ist. Also der Ursachbegriff z.B. wird ja von den Kindern von klein auf gelernt. Es ist gar keine Rede davon, daß das Apriori den Menschen gegeben ist. Das habe ich versucht, auch in meiner Dissertation zu sagen und mein guter und wirklich sehr verehrter Lehrer Hönigswald hat dann darauf bestanden, daß die letzten drei Seiten meiner Dissertation herausgerissen werden. Sie sind nicht mehr vorhanden. Schon die Dissertation stellte eine Rebellion gegen die Kantische Philosophie dar. Ich betrachte es als ein Unglück, daß Exemplare der Dissertation noch erhalten geblieben wurden. Denn ich kann es heute kaum noch lesen.

Sp. 1: Die Ablehnung des starren Theorie-Systems bei Kant und vor allem dessen Vorstellung, es gebe etwas, jenseits aller Kultur, das dem Menschen innewohnt, dehnt er auf die Philosophie insgesamt aus. Er lehnt seitdem deren Fragestellungen und Perspektiven ab. Damit ist der Weg zur Soziologie offen.

Cut 18: [Elias] Ich habe das Glück gehabt mir als postgraduate Student Heidelberg als den Platz, an dem ich leben möchte, auszusuchen. In Heidelberg war mit das Interessanteste, was man hören, lesen und tun konnte die Diskussion der Soziologen. Es war also meine eigene Wahl, daß mir dort ein Aufgabenbereich zu liegen schien, der es Wert ist, daß man ihm seine Lebensarbeit widmet. Angeregt durch die Heidelberger Diskussion, angeregt durch Diskussion zwischen Mannheim und Alfred Weber, durch das Erbe von Max Weber, durch den Salon von Marianne Weber bekam man sehr viel Anregungen. Soziologie erschien mir als Lebensaufgabe, die man, wie Sie nun sehen, bis zum 90. Lebensjahr und darüber hinaus mit großer Freude und Produktivität und mit einem gewissen Erfolg tun kann und in der man persönlich Erfüllung finden kann. (Außer dem, daß) ich wußte, Philosophie führt nicht weiter. Das war meine klare Erkenntnis meines Philosophiestudiums. Ich bin meinem Lehrer, meinem verehrten Lehrer Hönigswald außerordentlich dankbar, daß er mich denken gelehrt hat. Aber er hat mich auch zu der Überzeugung gebracht, daß Philosophie eine Sackgasse ist. Das ist einer der Hauptgründe, die mich dann in Heidelberg dazu veranlaßten, mich der Soziologie zu widmen. Denn da sah ich Fruchtbarkeit, Möglichkeiten der Produktivität, der Entdeckungen und bin bis heute der Überzeugung, daß ich richtig gewählt habe.

Sp. 1: In Heidelberg studiert er bei den Kultursoziologen Alfred Weber und Karl Mannheim. Beide konkurrieren zwar untereinander, schaffen jedoch für ihre Doktoranden ein Klima der Toleranz, in dem neue Fragestellungen entwickelt werden können.

Cut 19: [Elias] Ich arbeitete mich innerlich von der Philosophie weg und lebte im Kreise der Soziologen in Heidelberg; Soziologen, von denen ich zuerst von Jaspers gehört hatte, aber dann kam ich also zu Alfred Weber und zu Mannheim, die gewissermaßen die Vertreter der Soziologie in Heidelberg waren und heimliche Antagonisten. Es war alles sehr zivilisiert. Alfred Weber war ganz in der Tradition der Weberschen Familie ein Liberaler, wirklich tolerant nicht nur mit Worten, sondern im Herzen. Nach einiger Zeit versprach er mir die Habilitation und darum ging es mir eigentlich, allerdings müßte ich als fünfter Mann, Schlange stehen. Mannheim war nun sicherlich einer der brillantesten, er war jung, vier oder fünf Jahre älter als ich, er war damals 30, ein junger Privatdozent, der schon ein großes Renommee hatte. Ich spielte als sein Freund schon halb die Rolle seines Assistenten und das war auch einer der Gründe, warum, als er dann die große Professur in Frankfurt bekam, forderte er mich auf, mitzukommen und sagte, er könne mich früher habilitieren als Alfred Weber. Das war eigentlich der entscheidende Punkt.

Sp. 1: So folgt Norbert Elias 1930 dann Karl Mannheim als Assistent an die Frankfurter Universität. Dort wurde er schon bald zu einem wichtigen Mitglied des Lehrkörpers. Seine Fähigkeiten zum dialogischen Lernen kamen dabei zum Tragen, wie die Photographin Gisèle Freund sich erinnert, die damals über Photographie promovierte und später mit ihren Portraits von bekannten Literaten und Dichtern in Paris bekannt wurde.

Zit: Mannheim ließ immer den Abstand fühlen, der zwischen ihm und seinen Schülern bestand. Norbert Elias war das Bindeglied zwischen Mannheim und seinen Studenten. Er war ungemein beliebt, da er es verstand, auf die Probleme jedes Einzelnen einzugehen, und dies auch mit Großzügigkeit tat. Ich (diskutierte) mit Elias viel über meine Arbeit. Er tat es mit einer Uneigennützlichkeit, die bis zur Selbstvergessenheit reichte. Zwar waren meine Ideen entscheidend beeinflußt von der materialistischen Arbeitsmethode. Für diese hatte er weniger Verständnis, aber grundsätzlich war unsere Gedankenwelt nicht so verschieden, wenn ich auch bestimmte Tatsachen in einem anderen Lichte sah.

Sp. 1: Elias arbeitete in Frankfurt an seiner Habilitation über die höfische Gesellschaft; ein scheinbar historisch abgelegenes Thema, das aber für ihn durch seine Fragestellungen aus der Gegenwart bestimmt.

Cut 20: [Elias] Das ist charakteristisch für meine Arbeitsweise. Ich glaube nicht, daß es immer nur nützlich ist, wenn man von den akuten Problemen der eigenen Zeit denkt. Ich habe als meine Grundvorstellung, daß wir die gesamte Vergangenheit rekonstituieren müssen, möglichst so, daß wir ein klares Bild von ihr haben. Und da wurde mir klar, daß eine Lücke unseres Wissens die Strukturen der Fürstenhöfe sind. Sie waren früher die entscheidenden Machtzentren. Ich sah, daß der Hof eine so wichtige Gesellschaftsform ist, wie in Industriegesellschaften heute.

Sp. 1: Welche aktuelle Rolle die Frage der Macht spielen würde, sollte sich sehr bald zeigen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland waren die Arbeitsmöglichkeiten für Elias schlagartig eingeschränkt. Er konnte seine Habilitation nicht mehr abschließen. Sie wurde er erst 1969 veröffentlicht.

Cut 21: [Elias] Ich erinnere mich, wie ich eine Rede von Göring oder Goebbels hörte und wie ich mir selber sagte, jetzt wird es wirklich ernst. Also man wußte ja ebensowenig damals, was im Kommen war, wie wir es heute wissen. Alle waren geflohen. Mannheim war nicht mehr da, die meisten jüdischen oder linksgerichteten Gelehrten waren nicht mehr da und ich in meiner Unschuld sah mir das alles so an und sagte mir, ich müßte noch einmal in das Seminar gehen, um zu sehen, ob da nicht irgendwelche Sachen sind, die kompromittierend sind, herumliegen. Und, was ich da fand, war unglaublich. Ich fand die Mitgliederlisten der sozialdemokratischen Studenten, die Mitgliederliste der Roten Studenten, der kommunistischen Studenten, ich fand die Mitgliederliste der Rote Hilfe und da stand ich nun vor einem Haufen Papier und sagte mir, was soll ich damit tun.

Sp. 1: Zum Überlegen blieb Elias nicht mehr sehr viel Zeit. Schon bald nach diesen Ereignissen mußte auch er ins Ausland emigrieren, zunächst nach Paris, später nach London. Eine Hochschulkarriere, die so hoffnungsvoll begonnen hatte, wurde damit auf lange Zeit hin unterbrochen. Elias Leben im Exil - als »Reisender" - beginnt.

Cut 22: [Elias] Das Gefühl hatte man in England ganz stark, hier ist man sicher. Es änderte sich ein wenig später. Ich hatte ein kleines Stipendium und konnte die Arbeit machen, die mir am Herzen lag. Es war also nicht schlecht für mich. Hinzu kam, daß ich in der ersten Zeit noch kaum Englisch sprach. Ich brauchte eine lange Zeit dazu, ehe ich in England fließend Englisch sprechen oder gar Vorlesungen in Englisch halten konnte. Das war alles eine viele Jahre Arbeit, ehe ich mich eingelebt hatte. Im Jahre 1938 kamen meine armen alten Eltern, mich in England besuchen und mein Vater sprach wenig Englisch, meine Mutter fließend, aber sie fühlten sich so fremd, daß alle meine dringenden Bitten doch zu bleiben, an einem Steinwall abprallten. Ich kriegte Rote Kreuz-Briefe, als der Krieg begann, und auf diese Weise lernte ich, daß mein Vater gestorben ist. Er starb noch friedlich im Bett und meine Mutter in ein Konzentrationslager verschleppt wurde. Und es war für mich eine sehr verzweifelte Zeit. Was mich beschäftigte und was mich schrecklich traurig machte, war die Vorstellung, daß meine Mutter im Konzentrationslager von SS-Leuten mit Hunden gehetzt wurde. Sie hatte schreckliche Angst vor Hunden.

Cut 23: [Korte]Das gilt sicher auch für die anderen Sozialwissenschaftler seiner Generation, die in unterschiedlicher Weise dieses Erlebnis des Exils, des Wissens, daß die Eltern zu Hause umgebracht werden, daß nichts überbleibt von der Welt, die sie kannten, gibt es unterschiedliche Formen der Verarbeitung. Elias hat das sozusagen in sich reingenommen und hat nur gelegentlich in seinen Träumen davon erzählt. Ich denke, daß der Soziologe, der eigentlich sein ganzes Leben daran gearbeitet hat, seiner Zunft und auch den benachbarten Wissenschaften, also den Menschenwissenschaften, deutlich zu machen, daß Menschen nur mit anderen Menschen zusammenleben, daß es also den Homo clausus nicht gibt, aus Gründen des Überlebens im Exil ein wenig von einer solchen Attitüde sich zugelegt hatte, sozusagen einen relativ dicken Panzer umgelegt hatte.

Mu : Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 1: Im Londoner Exil, in der Bibliothek des Britischen Museum, entsteht Elias eigentliches Hauptwerk, »Über den Prozeß der Zivilisation", das nach dem Verhaltenswandel der Menschen in Europa seit dem Mittelalter fragt und diesen Wandel in Zusammenhang mit den Entstehungsprozessen moderner Staaten stellt. Ähnlich wie in seiner Habilitationsschrift richtet Elias auch hier seinen Blick auf die Geschichte. Dennoch wird bei der Lektüre sehr bald erkennbar, daß die Fragen aus der Gegenwart kommen. Die Studie über die psychischen Strukturen moderner Menschen ist auch Elias Versuch, den Faschismus zu verstehen.

Cut 24: [Elias] Sie haben vollkommen recht: Die Frage - ich bin nicht sicher, ob ich es Faschismus nennen würde die Frage des Nationalsozialismus, wie kommt es zu dem Nationalsozialismus. Ich habe in Deutschland noch in den letzten Tagen bevor ich emigrierte, exiliert wurde, habe ich noch die zunehmende Gewalttätigkeit, Saalkämpfe, die erschreckende Wildheit der Sprache, die Entzivilisierung gesehen. Und Sie haben vollkommen recht, natürlich hat das zu meinem Interesse an dem umgekehrten, an dem Zivilisationsprozeß intensiviert. Auch dieses akute Problem der Entzivilisierung hat die Problematik der Zivilisierung, hat dieser Problematik ihre Schärfe gegeben.

Mu: T. Susato, Narrenaufzug, ca. 15'' offen, [dann drunterlegen, Gesamtlänge: 1'16]

Sp. 2: An die Wand geduckt steigt ein kleiner, schmächtiger Mann die schmalen Gassen der Stadt empor. Er trägt einen Packen Bücher unter dem Arm und scheint ganz in Gedanken versunken. Gelegentlich verändert er ohne erkennbaren Grund die Richtung, um kurze Zeit später wieder auf den alten Weg zurückzukehren. Wenn ihm Menschen entgegenkommen, wechselt er schnell die Straßenseite. Der scheue Gelehrte zieht Anfang des 16. Jahrhunderts häufig so durch Basel. Er hat einen ausgeprägten Hang zur Reinlichkeit und scheut auch keine Umwege, um jene »Stinkgäßchen" zu umgehen, in denen sich die Basler Schlachtereien und Fischläden befinden. Ihr Anblick und ihr Geruch ist ihm genauso zuwider wie der Atem der Menschen. Überall fürchtet er Krankheitsherde und Ansteckung. Sich selbst verordnet er eine strenge Diät, die er auch von anderen erwartet.

Sp. 1: Der scheue Gelehrte Erasmus von Rotterdam ist einer der bekanntesten Humanisten der Reformation gewesen. Er war nicht nur einer der wichtigsten Gegenspieler Martin Luthers, übertraf ihn in manchem sogar an Strenge und Askese. Als Lehrer an verschiedenen Fürstenhöfen schrieb er zahlreiche Erziehungsbücher für die Fürstenkinder. In ihnen hielt er die Regeln der Zeit fest und machte sie so auch anderen Kindern zugänglich. Für Heinrich, den elfjährigen Sohn des Fürsten Adolf von Burgund beispielsweise schrieb er »Über die Umgangserziehung der Kinder« - ein Regelwerk über richtiges Benehmen, Kleidung, Bewegung, Schlafen und - besonders ausführlich - über das Verhalten bei Tisch.

Zit: Der Mensch soll nämlich an Seele und Körper, in seinem Auftreten und in seiner Haltung aus einem Guß sein, vorzüglich sollten alle zurückhaltend sein, besonders aber Menschen, die zu führenden Aufgaben berufen sind. Manche sitzen kaum da, und schon greifen sie zum Essen. Wie die Wölfe oder die Leute, die, wie es im Sprichwort heißt, das Fleisch kaum daß es gar ist, aus dem Kessel nehmen. Greif nicht als erster zu den Speisen, nicht so sehr weil es Gier verrät, sondern weil es gefährlich sein kann, einen unbekannten heißen Brocken in den Mund zu nehmen. Entweder spuckt man ihn unwillkürlich aus, oder man schluckt ihn hinunter und verbrüht sich die Kehle. Wenn ein Stück noch so auffallend köstlich ist, soll man es dem Nachbarn überlassen und sich selbst nehmen, was zunächst liegt. Nur Unbeherrschte sondieren mit ihren Pfoten überall in der Schüssel herum.

Sp. 1: Solcher Art Ratschläge, die heute in unseren Ohren etwas seltsam klingen, haben Menschen seit dem Mittelalter aufgeschrieben. Sie sind vor allem in den Schriften für den Adel festgehalten. Auch Erasmus schreibt für ein Fürstenkind.

Zit: Ich nehme nicht an, daß du derlei Ratschläge sehr nötig hast. Es geht mir darum, daß die Jugend dies alles um so aufgeschlossener zur Kenntnis nimmt, weil es einem jungen Menschen gewidmet ist, der eine glanzvolle Entwicklung vor sich hat und zu großen Hoffnungen berechtigt.

Sp. 1: Auch die Kinder der Bürger sollen sich gesittet und zurückhaltend behehmen, erst dann, wenn sie nicht auffällig schmatzen, rülpsen oder sich auf den besten Bissen stürzen, können sie auch mit gesellschaftlicher Anerkennung rechnen. Offensichtlich ist dies aber noch nicht selbstverständlich. Erasmus und andere Pädagogen müssen es noch aufschreiben.

Mu: Haydn, Son. op. 52, 2. Satz ca. 15'' offen, dann unterlegen

Sp. 2: Zwei Jahrhunderte später haben es die Pädagogen der Aufklärung schon leichter. Sie müssen keinem Kind mehr erklären, daß es nicht mit dem Pfoten in der Schüssel »herumrühren" soll. Bürgerliche und adelige Kinder tun dies zwar im später 18. Jahrhundert durchaus noch, doch ist ihnen dabei klar, daß sie etwas Verbotenes tun. Jetzt können sich die Aufklärer darauf beschränken, an die schon bekannten Mäßigungsgebote zu erinnern. So z.B. Wilhelm Tissot in seiner Schrift, »Die Gesundheit der Menschen und von der Ökonomie des Leibes beyderley Geschlechts" aus dem Jahre 1777.

Zit: Wenn nach Tische der Kopf heiter, der Körper gelenk, das Gemüthe munter und zum Denken aufgelegt, so kann man daraus den sichern Schluß machen, man habe nicht zu viel gegessen. Bemerkt man hingegen daß der Leib nach dem Essen schwer, und das Gemüth zum Nachdenken unfähig ist, spürt man, daß der Magen geschwollen und angefüllt ist, und hat man endlich nach Tisch einen schweren Kopf und ein Verlangen auszuspucken, so sind dieses ganz untrügliche Zeichen, daß man entweder zu viel gegessen oder getrunken habe.

Mu: Haydn, Son. op. 52, 2. Satz ca. 15'', kurz einblenden

Sp. 2: Die Ebene der Regeln hat sich in den 250 Jahren, die zwischen den Aussagen von Erasmus und Tissots liegen, verschoben. Kein Aufklärer kam mehr auf die Idee, Menschen vor groben Unflätigkeiten bei Tisch zu warnen. Sie tun es schon von sich aus nicht mehr. Die richtigen Verhaltensweisen, die Erasmus noch für den Adel aufgeschrieben hat, sind mittlerweile auch das Bürgertum so selbstverständlich.

Sp. 1: Für den Menschenwissenschaftler Norbert Elias sind diese und ähnliche Quellen Belege für das, was er das Vorrücken der »Peinlichkeitsschwelle und der Schamgrenze" nennt. Die Menschen legen sich ganz allmählich Regeln und Zwänge auf, die ihr Triebleben und ihren Affekthaushalt in ganz entscheidendem Maße verändern: nicht nur beim Essen, sondern auch beim Schneuzen und Spucken, den Ausscheidungen, der Sexualität oder der Aggressivität. Was in der Renaissance beginnt erhält im weiteren Verlauf der Neuzeit immer größeren Nachdruck, wird zunächst aufgeschrieben und ist schließlich so selbstverständlich, daß es auch nicht mehr schriftlich festgehalten werden muß. Wir haben es verinnerlicht. Ganz anders als im Mittelalter lassen wir unserer Körperlichkeit weniger freien Lauf. Wir kontrollieren sie, suchen sie zu beherrschen.

Cut 25: [Elias] In meinem Material fand ich nun die Möglichkeit zu sagen, mit Bestimmtheit zu sagen, daß und wie sich die Verhaltensweisen und Handlungen der Menschen im Laufe der Entwicklung ändern. Das hat sich bis heute sehr bewährt. Denn selbst unter den Augen der Zeitgenossen haben sich die Standarde verändert. So indem ich also die Veränderung des Verhaltens oder des Standarde aufgrund z.B. der Manierenbücher, und auch vieler anderer Quellen demonstrieren konnte und auch unwiderruflich aufweisen konnte, war es mir möglich, den Prozeß der Entwicklung von Verhaltensweisen und von Handlungen darzustellen, den niemand zuvor faßbar gemacht hatte. Es war im Grunde etwas sehr einfaches, aber die Menschen waren so paralysiert bei den naturwissenschaftlichen Mustern des Verhaltens oder des Handelns, daß sie Entwicklungslinien gar nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Die Entdeckung am Material spielte ohne Zweifel eine sehr entscheidende Rolle bei dieser Aufgabe. Aber natürlich ist die Entdeckung mitbestimmt durch die stillschweigende Unzufriedenheit mit den vorhandenen Zugängen der Gesellschaftswissenschaft. Z.B. die Verhaltenstheorie von Max Weber oder die behaviouristischen Verhaltenstheorien behandeln Verhalten, als ob es naturwissenschaftliche Gegebenheiten sind, die unverändert über die Jahrhunderte da sind und für die man dann allgemeine Gesetzmäßigkeiten festschreiben. Das war mir schon immer klar, das ist ein Mangel.

Sp. 2: So wird mit Hilfe von Elias Fragestellung deutlich, wie - langfristig betrachtet - das Triebleben des Menschen ungeplant und häufig unbewußt umgeformt wird. Dieser Wandel »vom Fremdzwang zum Selbstzwang", wie Elias das nennt, deutet auf eine verstärkte Selbstkontrolle jedes einzelnen hin. Sie ist notwendig, um bei zunehmender Bevölkerungsdichte das Zusammenleben des Menschen zu ermöglichen. Vor allem in den Städten leben die Menschen nunmehr enger zusammen. Anders als im Mittelalter sind sie auch gezwungen, sich über den Markt Nahrungsmittel und andere Güter zu besorgen oder zu verkaufen.

Zit: Allerdings erhalten diese Zurückhaltung und dieser Selbstzwang

Sp. 2: sagt Elias

Zit: in den bisherigen Phasen der Zivilisationsbewegung ihr Gepräge nicht einfach durch die Notwendigkeit der beständigen Kooperation jedes Einzelnen mit vielen Anderen, sondern sie sind zunächst in ihrem Schema noch weitgehend durch die eigentümliche Spaltung der Gesellschaft in Oberschichten und Unterschichten bestimmt. Die Art der Zurückhaltung und der Triebmodellierung, wie sie sich bei den Menschen der jeweils höheren Schicht herstellt, erhält daher ihr besonderes Gepräge zunächst noch durch die beständigen Spannungen, die die Gesellschaft durchziehen. Die Ich- und Über-Ich-Bildung dieser Menschen ist sowohl bestimmt durch den Konkurrenzdruck, durch die Ausscheidungskämpfe innerhalb der eigenen Schicht, wie durch den beständigen Auftrieb von unten, den die fortschreitende Funktionsteilung in immer neuen Formen produziert.

Sp. 1: Der Adelige des 16. oder 17. Jahrhunderts beispielsweise meint, sich durch Verfeinerung seiner Manieren vom Bürger unterscheiden zu können. Dieser wiederum hat nur Chancen aufzusteigen, wenn er sich in seinen Verhaltensweisen den Adeligen anpaßt oder sie gar noch durch Tugendhaftigkeit oder Moral übertrifft. In diesem Prozeß übernimmt der Staat verstärkt die Aufgabe, die Klassenauseinandersetzungen zu regeln und zu kontrollieren: Ihm fällt das alleinige Gewaltmonopol zu, während die Gesellschaft nach innen befriedet wird. So zeigt Elias eine Verbindung zwischen staatlicher und individueller Entwicklung auf. Beide Ebenen sind miteinander verflochten, ohne je rational geplant worden zu sein. Damit stellt er ein neues, soziologische Konventionen sprengendes Paradigma auf, bei dem der Prozeß des Wandels in den Vordergrund rückt und nicht die einzelne isolierte Beobachtung.

Cut 26: [Elias] Mich beschäftigt z.B. das Zivilisationsproblem. Das Problem, wie und warum der Standard der Scham oder der Peinlichkeit oder des Sexualverhaltens sich im Laufe der Entwicklung gewandelt hat. Das ist ein ungeheuer akutes Problem, das jedermann auf die Zunge kommt, wenn er sagen wir einmal nach Saudiarabien fährt und das Verhalten von Menschen in bestimmter Hinsicht, im Essen, im Verhältnis zu den natürlichen Bedürfnissen in seiner ursprünglichen Form dort sieht und es mit dem eigenen vergleicht. Das ist also ein sehr aktuelles Problem, auch in bezug auf die Barbarei des Krieges. Wie kommt es, daß wir, zivilisierte Menschen, die wir sind, den Krieg nicht loswerden, die Bedrohung des Krieges nicht loswerden. Alles das sind sehr akute, nicht unwichtige Probleme. Ich rede gar nicht von den Gaskammer: Wie kommt es, daß plötzlich der Zivilisationsstandard so gesunken ist? Wie kam es dazu, daß heute in anderen Ländern Menschen gefoltert werden, daß wir also in einem halb barbarischen Zustand leben? Alles das sind sehr akute Fragen. Das Zivilisationsbuch beschäftigt sich mit solchen Fragen in einer strikt wissenschaftlicher Form. Das hat auch das allgemeine Publikum angesprochen. Aber es ist ein Problem, das die meisten Soziologen als Fachproblem relativ wenig interessiert und das auch theoretische Implikationen hat, die dem heute vorherrschenden Theorien widersprechen. Das bedeutet z.B., daß man alle theoretischen Begriffe in Prozeßbegriffen denken muß. Und das für die meisten Soziologen außerordentlich schwierig.

Cut 27: [Korte]Das, was Elias für die Arbeit von Soziologinnen und Soziologen geliefert hat, ist zunächst ein Entwurf, der es einem ermöglicht, langfristige Entwicklungen von dem Zusammenschluß von Menschen in Figurationen zu untersuchen und dabei eben auch die persönlichen, individuellen Entwicklungen in der Verflochtenheit großgesellschaftlichen, mit staatlichen, mit Großgruppen-Entwicklungen zu verbinden, also die Verflechtung dessen, was er Psychogenese genannt hat, und der Entwicklung der Staatsgesellschaften, der Ökonomie, der Planungssysteme, der Systeme der Vermittlung des Wissens, das, was er Soziogenese nennt. Diese Verzahnung der beiden Entwicklungen, das ist das eigentlich wichtige an dem, was er der Arbeit von Soziologinnen und Soziologen geliefert hat. Darin liegt die eigentliche Bedeutung, nicht als Kulturphilosoph, der etwas über westliche Zivilisation geschrieben hat.

Mu: Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 1: Die frühen Fragen und Problemstellungen tauchen immer wieder im Werk Norbert Elias auf. Manche seiner Kollegen sagen gar, seine wichtigsten Fragen seien bereits in seinem frühen Werk enthalten. Der späte Band »Die Gesellschaft der Individuen" zieht in gewisser Weise eine Bilanz.

Cut 28: [Elias] Es gibt eine große Kontinuität, die zeigt sich unter anderem in meinem neuesten Buch, in dem ich etwas ungewöhnliches gemacht habe. Ich habe gezeigt, wie ich mit dem Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in den Jahren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gerungen habe, da habe ich etwas geschrieben über dieses Problem. Ein zweites Kapitel zeigt, wie ich dem mit gleichen Problem in den fünfziger Jahren gerungen habe und ein drittes Kapitel zeigt, wie ich dieses Problem heute anfasse und mit diesem Problem fertig zu werden suche. Ich glaube, daß es da ein Fortschritt gibt, aber es gibt natürlich auch eine große Kontinuität, weil ich fand, daß die landläufige Art und Weise des Sprechens die Gesellschaft und Individuum wie zwei verschiedene Gegebenheiten behandelt, weil ich die landläufige Art und Weise des Sprechens schlicht für Unsinn halte. Und die Aufgabe war also, mit einer so tief eingewurzelten Gepflogenheit wie der von Gesellschaft und Individuum zu sprechen: Wie kann man eine so tief eingewurzelte Gewohnheit verändern?

Sp. 1: Indem Elias auf die enge Verflechtung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen hinweist, hebt er die sonst übliche Trennung zwischen der Gesellschaft außen und dem Individuum innen auf. Menschliche Natur wird selbst als historisch geworden begreifbar. Damit präzisiert er Überlegungen, die in der Soziologie bereits um die Jahrhundertwende angestellt worden sind. Der Ahnherr der deutschen Soziologie, Max Weber, hatte Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des Protestantismus und der Herausbildung ganz bestimmter gesellschaftlicher Wertmaßstäbe - etwa dem Arbeitsethos - herausgearbeitet und das »protestantische Ethik" genannt. Hierauf greift Elias ebenso zurück, wie auf kulturkritische Aspekte der Freudschen Psychoanalyse, die er ebenfalls modifiziert einbezieht.

Cut 29: [Elias] Ich glaube, daß es mir gelungen ist, das theoretische Gebäude von Freud ein wenig weiterzuentwickeln und dadurch wurde es möglich, es für den Prozeß der Gesellschaftsentwicklung zu verwerten. Ich will Ihnen auch sagen, worin die Weiterentwicklung besteht: Für Freud selber war an dem, was ich die Selbstregulierungsinstanzen nenne, also in seiner Sprache »Ich" und »Über-Ich" auch »Ich-Ideal", für Freud waren das im großen und ganzen ewige Gegebenheiten. Er war und dachte im wesentlichen wie ein Naturwissenschaftler und das war nicht nur sein gutes Recht, sondern es war auch überaus fruchtbar. Aber um die Bedeutung von Freuds Theorie für die Gesellschaftswissenschaften zu sehen, muß man erkennen, daß die Ich-Bildung, die Über-Ich-Bildung und die Bildung des Ich-Ideals in ihrem Gehalt sich im Laufe der Gesellschaftsentwicklung ändern. Ich bin insofern über Freud herausgegangen, als ich zu zeigen versucht habe, daß nicht nur das Ich, sondern auch das Wir-Bild des einzelnen eine selbstregulierende Funktion hat, daß also das Schema von Freud, das einfach Es, Ich und Über-Ich aufzeigt, zu einfach ist. Jeder Mensch, aber jeder einzelne Mensch hat, in meiner Sprache zu reden, ein Wir-Bild, das Teil seiner individuellen Persönlichkeit ist, ebenso wie ein Ich-Bild und es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften, die Ich- und Wir-Balance, die Balance zwischen dem Ich und dem Wir einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.

Sp. 1: Elias Theorie unterscheidet sich dadurch von vielen anderen soziologischen Theoriekonstruktionen, daß er den Blick richtet auf den lebendigen Menschen und dessen Einbindung in das gesellschaftliche Gefüge. Da Menschen grundsätzlich voneinander abhängig sind, sagt Elias, lassen sich ihre konkreten Verhaltensweisen, ihre Einstellung zu ihrem Körper oder ihr Umgang miteinander nur im gesellschaftlichen Zusammenhang verstehen.

Cut 30: [Elias] Ich habe einmal gesagt, stellen sie sich vor, wie man den zwölften Zug in einem Schachspiel erklären sollte. Den zwölften Zug könnte man nicht erklären, indem man ihn einfach dem Spieler A oder dem Spieler B als Urheber zuschreibt, sondern den kann man nur verstehen aus Verflechtung ihrer Handlungen ineinander. Dieses Verflechtungsgefüge, wie sich unsere Handlungen ineinander verflechten, das undurchsichtige Gewebe, das daraus kommt, das verstehen wir noch nicht. Das erste, was man klarmachen muß, ist, daß wir nicht wissen, wie eigentlich die Zusammenhänge dieser Menschenwelt, die wir miteinander bilden, sind. Und da spielt in meinem Denken eine Vorstellung eine große Rolle, nämlich die Vorstellung, daß sich alles Planen, sich im Grunde innerhalb eines Gerüsts von ungeplanten Prozessen abspielt. Der Zivilisationsprozeß ist ein solcher ungeplanter Prozeß. Wir wissen also im Grunde noch nicht, warum wir aus dem rohen barbarischen Leben unserer Vorfahren überhaupt herausgewachsen sind und das gilt es aufzudecken.

Sp. 1: Mit diesem Forschungsprogramm traf Elias in den 70er Jahren unerwartet auf eine interessierte Leserschaft.

Cut 31: [Schröter]Um es mal ein bißchen von dem eigenen Einfallsreichtum abzulösen, liegt natürlich auch etwas bestechendes an der Theorie darin, daß sie an Ansätze anschließt, die inzwischen für uns kanonisiert sind als bedeutend. Elias hat Marxismus drin, Elias hat Psychoanalyse drin, Elias hat Max Weber drin. Große kanonisierte sozialwissenschaftliche Traditionen, in die Elias noch in den 20er Jahren auch hineingewachsen ist und die prägen die Richtung seiner eigenen Theoriebildung. Insofern ist es nicht nur ein Modell, das bedeutend ist, sondern es ist auch eminent anschlußfähiges Modell. Und ich persönlich denke, sein Erfolg in den 70er Jahren beruht eigentlich darauf, daß in der Studentenbewegung diese Traditionen. Marx und Freud sind breit rezipiert worden seit den späten 6oer Jahren und sollten auch integriert werden und da stieß man auf Norbert Elias und der hats schon gemacht.

Mu: Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 2: Auch ein junger Ethnologe aus Heidelberg interessierte sich in den 70er Jahren zunächst für Fragen der Zivilisation und des Zusammenhangs von Individuum und Kultur. Bei seinem Versuch jedoch, Spuren der eigenen wissenschaftlichen Lernprozesse zu verwischen, geriet ihm auch Norbert Elias ins Visier. Der Kulturwissenschaftler Hans-Peter Duerr machte sich daran, den »Mythos des Zivilisationsprozesses" zu entzaubern und löste damit eine große Debatte aus. In mittlerweile vier Bänden trug der Wissenschaftler, der sich nicht zu einem Gespräch für diese Sendung bereitfand, eine unübersehbare Menge an Quellentexten und Bilder aus allen historischen Epochen und allen Kulturen zusammen. Duerr unterstellt Elias, er betrachte den Zivilisationsprozeß als linearen Entwicklung. Gegen diese Vorstellung, die Elias so gar nicht aufgestellt hat, führt er eine Unmenge von Einzelbefunden an.

Zit: Ich (will) zeigen, daß die Menschen in kleinen, überschaubaren 'traditionellen' Gesellschaften mit den Angehörigen der eigenen Gruppe viel enger verflochten waren, als dies bei uns Heutigen der Fall ist; was bedeutet, daß die unmittelbare soziale Kontrolle, der man unterworfen war, viel unvermeidbarer und lückenloser gewesen ist. Die Scham vor der Entblößung des Genitalbereichs keine (ist) historische Zufälligkeit, sondern (gehört) zum Wesen des Menschen .

Sp. 2: Eine Kritik an Elias, die Hermann Korte, vor allem aus politischen Gründen für problematisch hält.

Cut 32: [Korte]Unabhängig von der Frage, was Duerr Elias vorwirft, handelt es sich insgesamt um den Versuch - und zwar durchaus zu einem Zeitpunkt, wo das in der Bundesrepublik alt Mode wurde - alle Art von prozeßtheoretischer Betrachtung der Gesellschaft zu diffamieren und wieder zurückzukommen zu Grundwerten, zu anthropologischen Ausrichtungen des Menschen, die es sozusagen in jedem Fall zu realisieren gilt. Interessant ist es in einer Phase der Bundesrepublik, wo es gilt, die Grundwerte wieder zu entdecken, anthropologische Grundkonstaten für unser Zusammenleben zu entwickeln. Und da hinein paßte das vorzüglich. Denn die Grundthese richtet sich gegen Marx, Weber, richtet sich gegen Horkheimer, richtet sich gegen Elias, gegen alle die sagen, es gibt Prozesse, deren einzelne Phasen sich beschreiben lassen, wo sich das Verhalten der Menschen ganz eindeutig verändert.

Mu: Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14''

Sp. 1: Die Taschenbuchausgabe von »Über den Prozeß der Zivilisation" wird ein erstaunlicher Erfolg auf dem Markt wissenschaftlicher Publikationen. Der Soziologe wird nicht nur in Deutschland, sondern bald auch in Holland, Frankreich und England bekannt. Mit dieser Anerkennung im Rücken setzt sich Elias an den Schreibtisch und veröffentlicht zwischen seinem 80. und 90. Lebensjahr mehr Werke als in den fünf Jahrzehnten davor. Auf der Grundlage nicht publizierter Manuskripte oder englischer Originaltexte, aufgrund von Notizen und Skripten entstehen Studien »Über die Deutschen", über die »Zeit", über Sport und Aggressivität, die methodische Arbeit »Engagement und Distanzierung" und die empirische Studie »Außenseiter und Etablierte".

Cut 33: [Korte]Erst ganz spät - also erst mit den Studien über die Deutschen - fängt er an, sich auch dezidiert zu politischen Ereignissen zu äußern. Und daß die Studien über die Deutschen erst ganz zum Ende seines Lebens erscheinen ist sicher kein Zufall.

Sp. 2: »Außenseiter und Etablierte" stellt Elias größtes empirisches Forschungsprojekt dar. In den 60er Jahren hat er dafür in England drei Gemeinden untersucht, die ganz unterschiedliche Delinquenzraten aufweisen. In einer Gemeidne ist die Kriminalität wesentlich höher als in den beiden anderen. Elias fragt sehr genau nach den Bedingungen, unter denen Menschen der einen Gemeinde schon früh in bestimmte Rollen gedrängt, »stigmatisiert" werden. Liest man die Arbeit jedoch genau, kann man sehr schnell erkennen, daß Elias an diesen Gemeinden nur beispielhaft viel allgemeiner Probleme von Außenseitern behandelt und darin auch seine eigene Geschichte sieht.

Sp. 1: Als 85jähriger hat er schließlich noch eine abgeklärte Altersarbeit über den »Tod" geschrieben.

Cut 34: [Korte]Wenn Sie sich die Einsamkeit eines Sterbenden ansehen, das ist der Text eines Menschen, der sich von sich befreit, frei ist auch über seinen Tod zu schreiben. Ich finde das nach wie vor eines der besten Bücher die er geschrieben hat. Und daß nie einer auf die Idee gekommen ist, ihm dafür den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zu geben, halte ich für ein wirkliches Versäumnis der deutschen Akademie für Sprache.

Sp. 2: Viele der späten Arbeiten sind mit Unterstützung von Studenten oder Doktoranden publizieert worden, die Elias beim Ausarbeiten seiner Manuskripte zur Seite standen - zunächst in Deutschland, später in den Niederlanden. Michael Schröter hat die meisten der in den letzten Jahren auf Deutsch erschienen Bücher redaktionell betreut. Er hat mit Elias zwei Jahre intensiv zusammengearbeitet.

Cut 35: [Schröter]Es fing an damit, daß ich mich Elias als Übersetzer angeboten habe und ich sollte dann einen Band wissenssoziologischer Aufsätze, der geplant war mit ihm bearbeiten. Da habe ich dann kennengelernt, wie er wirklich arbeitet und das Ergebnis war, daß der Band nie fertig geworden ist. Das Problem war, daß er nicht übersetzen konnte, sondern immer weiterschreiben wollte, kleine Exkurse, größere Exkurse und am Ende war ein ganz anderes Thema dran. Er hatte gar kein Gefühl mehr dafür, daß es ein Aufsatz war, der bereits vorlag und den wir vom Englischen ins Deutsche bringen wollten. Er schrieb später sowieso nur nach Diktat, daß seine Assistenten da saßen und mitschrieben und er hat immer so geschrieben, daß er ein Stück diktierte und daß er es dann am nächsten Tag überarbeitet und dann vielleicht ein drittes, viertes, achtes Mal überarbeitet und dabei immer mehr verdichtete, formte. Das war auf der einen Seite ein überaus strenges wissenschaftliches Über-Ich, er war einfach nie zufrieden, es mußte immer noch besser sein. Das hatte manchmal quälende Züge. Ein zweiter Punkt war, daß er dadurch, daß er die Dinge in der Produktion hielt, ging es auch immer weiter, er hat sein eigenes Denken nicht abgeschlossen, sondern er hats sich im Grund dauernd im kreativen Prozeß gehalten auf die Art und Weise. Und ich denke einfach auch, er wollte es nicht hergeben. Publizieren heißt ja auch immer etwas, was das Ureigenste ist, wegzugeben und das, was andere Leute damit machen, das kann man nicht kontrollieren. Das ist alles sehr kränkend. Und ich denke, daß er sich diesen kränkenden Entäußerungsprozeß, den hat er sich auch ein wenig ersparen wollen.

Sp. 1: Diese Unterstützung fand Elias dann auch ab 1983 in Amsterdam, wo er in die Nähe seines Kollegen Johan Goudsblom zog.

Cut 36: [Goudsblom]Ich habe mich auch hier immer darum gekümmert, welche Assistenten er bekam. Ich habe immer bei meinen eigenen Studenten gesucht nach Leuten, die darin geschickt waren. Meistens hat das geklappt, manchmal auch nicht, aber in den meisten Fällen haben diese Assistenten etwa ein Jahr bei Elias gearbeitet. Und es war sehr intensiv und die meisten haben es auch nicht länger tun können als ein Jahr.

Mu: Mozart, Requiem, Lacrimosa, kurz offen, dann drunterlegen 2'39

Zit: Mozart hatte eine ganz ungewöhnliche Kindheit. Wir kennen ihn heute als das »Wunderkind" par excellence. Mit fünf Jahren begann er zu komponieren. Noch vor seinem sechsten Geburtstag unternahm der Vater mit ihm und seiner Schwester die erste Konzertreise nach München. Soziologisch betrachtet, zeigen die Konzertreisen der Familie Mozart deren eigentümliche, in mancher Hinsicht beinahe einzigartige Außenseitersituation. Aus der Enge des Salzburger Lebens sind sie mit einem Schlag in die allerhöchsten Sphären der Gesellschaft versetzt.

Sp. 2: Der Außenseiter Norbert Elias, in der bürgerlich-jüdischen Enge Breslaus aufgewachsen, hat sich am Ende seines Lebens mit Wolfgang Amadeus Mozart befaßt. Der Herausgeber Michael Schröter hat Elias' Manuskript nach dessen Tod als Buch herausgebracht: Ein Vermächtnis für einen »Reisenden«.

Zit: Aller Wahrscheinlichkeit nach beförderte die Vielfalt der musikalischen Erfahrungen, denen er auf seinen Reisen ausgesetzt war, seine Neigung, zu experimentieren und nach neuen Synthesen verschiedener Stile und Schulen seiner Zeit zu suchen. Erst allmählich, im Heranwachsen, war er in der Lage, das so erlernte Wissen in den Strom seiner eigenen Phantasie einzuschmelzen und etwas Neues daraus zu machen, etwas vorher noch nie Gehörtes. Schon in der frühen Kindheit war, so scheint es, Mozarts Liebesbedürfnis verunsichert worden. Das Gefühl des Ungeliebtseins fand im Laufe der Jahre durch wechselnde Erfahrungen immer wieder Bestätigung, und die Intensität des ungestillten Verlangens, geliebt zu werden, das durch Mozarts ganzes Leben hin als dominierender Wunsch spürbar ist, bestimmte in sehr hohem Maße, was für ihn sinnerfüllend und was sinnentleerend.

Cut 37: [Schröter]Daß Elias doch ein bißchen abhängig war davon war, daß er ein Feedback zurückbekam, daß die Sache was taugt. Also es doch ein latentes Gespräch über die Sache war, das war immer mit dabei. Das durfte nicht sehr weit gehen, das durfte auch sicher nicht in Widerspruch ausarten. Es sollte eigentlich ein bestätigendes Feedback kommen oder vielleicht, daß der Gedanke nicht verständlich ist. Dieses Feedback, das hat er gesucht.

Cut 38: [Elias] Ich habe eine recht große Begabung und diese Begabung, so scheint es mir, legt mir bestimmte Verpflichtungen auf. Die Verpflichtung, das was ich sehe, Erleuchtungen, die mir Gedankenblitze geben, kritisch auch zu veröffentlichen. Es ist meine Pflicht, diese Begabung zu nutzen. Ich möchte nicht, daß das, was ich weiß, sagen kann, verloren geht und ich konzentriere die Kräfte, die mir als Neunzigjährigem geblieben sind, niederzuschreiben, das Neue niederzuschreiben. Denn ich fühle stark, das, was ich zu sagen habe, ist etwas Neues, es ist weiterführend.

Mu: Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14'' stehen lassen

Cut 39 [Elias] manchmal an Regentagen/ist es schwer/die Hand zu heben/man vermag nicht mehr/den Fuß zu rühren/um zu gehen/Stirn und Mund sind leer/man hört die Zeit an sich vorüberwehen/man sitzt bei sich/in nichts gespannt/und will/und nichts gehorcht/nichts rührt sich/still/sind Arm und Bein/man spürt sich als Fremdes/als ein gebeutes Tier/das zum Ende will.

Cut 40: [Elias] Es ist eine andere Form der Kommunikation mit den Menschen. Man kann vieles, das sich wissenschaftlich schwer ausdrücken läßt, durch Gedichte kommunizieren und das ist mir z.T. auch gut gelungen. Es bedeutet aber auch eine Erholung, denn das Gedichtemachen verlangt eine andere Form der Konzentration als die wissenschaftliche Arbeit. Ich finde, daß sie beide sich sehr gut ergänzen. Beide machen hohe Ansprüche an die Phantasie, an die Vorstellungskraft, aber beim Schreiben von Gedichten kann man sich ein viel höheres Maß an Empfinden und Phantasien erlauben als bei der Wissenschaft, die ja viel mehr Realitätsgebunden sein muß. So in meinem Gefühlshaushalt sind die beiden Produktionsweisen eine Ergänzung.

Mu: Mozart, Klv.Son. in a-moll (KV 310), 2. Satz ca. 14'' wieder unterlegen

Cut 41: [Elias] so/grundlos/kommt die Leere/Grund darauf/der nächste Schritt gebaut/versinkt/die Nebel ballen/sich vor dem Ziel/nach dem der Lauf/man fällt ins Leere/und man läßt sich fallen/ grundloses Spiel/man läßt sich fallen/und man fängt sich auf.

Cut 42: [Elias] Ich bin neunzig und habe die Hoffnung noch nicht verloren. Im Gegenteil. Vieles, was ich heute tue, ist für zukünftige Generationen getan.

Quelle: Radio Bremen, Sendemanuskript-Archiv