Die Humanwissenschaften verfolgen bei der Untersuchung der menschlichen Emotionen traditionell zwei verschiedene Strategien, die beide ihren Gegenstand verfehlen: Die Ethologie und bestimmte Richtungen der Psychologie suchen nach natürlichen Konstanten, die der Mensch mit anderen Tierarten gemeinsam hat. Die Soziologie und die Geschichtswissenschaft behandeln die Emotionen als etwas Geistiges, außerhalb der Natur Befindliches. Gegen den monistischen Reduktionismus der einen und den dualistischen Isolationismus der andern plädiert der vorliegende Beitrag für eine prozeßbezogene Betrachtungsweise, die zugleich den Stellenwert der menschlichen Emotionen im Rahmen der biologischen Evolution und ihre Funktionen im Rahmen der Entwicklung von Gesellschaften untersucht. Als Grundlage einer solchen Untersuchung der Emotionen werden drei Hypothesen formuliert und diskutiert: 1. Mit dem Auftreten des Menschen hat in der Evolution eine Wende im Verhältnis zwischen angeborener und gelernter Verhaltenssteuerung stattgefunden. 2. Der einzelne Mensch hat nicht nur die Fähigkeit zu lernen, sondern ist gezwungen zu lernen, um ein vollgültiger Mensch zu werden. 3. Die Emotionen erwachsener Menschen sind niemals völlig ungelernte genetisch fixierte Reaktionsmuster. Was die Struktur der Emotionen betrifft, so wird betont, daß jede Emotion aus einer physiologischen Komponente, einer Verhaltenskomponente und einer Gefühlskomponente besteht. Wer das Emotionsverhalten auf bloßen Gefühlsausdruck reduziert, verkennt die besondere Funktion der Emotionen in der menschlichen Interaktion. Ihre Differenzierung durch Lernen und ihre gegenseitige Mitteilung ermöglicht das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft und damit das Entstehen von Kultur.
Quelle: Zeitschrift für Semiotik