Wenn im Klassenkampf alle Mittel versagen, geht man essen. Wenn der Prolet den Alfa T. Spark least, ohne mit der Wimper zu zucken, bei Thomas i-Punkt sein Sakko kauft und einem das Loft wegschnappt, hilft zur Aufrechterhaltung der sozialen Distinktion nur noch eins: die Ästethisierung des Essens. Sich auf Style-Seiten über die Chefköche der Saison zu informieren, die passenden Restaurants zu finden (und im rechten Moment zu wechseln), dem Körper mit Mineralwasser Form zu geben, Gerichte der Haute Cuisine zu kochen - die Generation der Sushi-Esser zeigt Fahne als kulinarische Kulturkapitalisten. Wer jemals aus dem Wok aß, nippt am Text von David Beil - einem Auszug aus All you can eat - ebenso genussvoll, wie man die Formulierungen Schaufenster speisen und kulturelle Allesfresser auf der Zunge zergehen lässt oder ihm für seine Beschreibung des Essens als symbolische Gewalt, auf Tellern serviert ein Extratrinkgeld liegen lässt.
Kaum etwas ist peinlicher, als sich beim Essen als stilloser Barbar zu outen, beruhigend ist jedoch, dass das Peinlichkeitsgefühl die Grundlage jeder Esskultur darstellt. Gotthard Scholz leistet da mit seinem Hörbuch Die Soziologie des Essens ein appetitliches Stück Aufklärungsarbeit. Er kombiniert Texte von Pierre Bourdieu, Norbert Elias, Georg Simmel und David Bell mit Akkordeonmusik von Ulrich Kodjo Wendt, lässt Heinrich Epskamp in erläutenden Miniaturen die Autoren kommentieren und rahmt das Ganze mit Hans Sachs und seinem Schlauraffenland ein.
Mit einem Fauxpas in der Menüfolge hatte die Weltgeschichte begonnen, ein Apfel, zu früh serviert, und schon verließ man zerknirscht das Feinschmeckerparadies: Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen. Große Fortschritte waren im gesamteuropäischen Raum nicht auszumachen. Ex negativo konnte man die Realität aus den Verboten ablesen: Du sollst nicht schmatzen, nicht über die Tafel spucken und dich nicht ins Tischtuch (so vorhanden) schnäuzen, oder gar in die Finger, bevor du wieder in die gemeinsame Platte fasst. jeder mit seinem Löffel in die eine Suppenschüssel - das war Standard bis in die Neuzeit.
Norbert Elias fächert die Entwicklung behutsam auf: Wozu die Gabel? (Um die zerkleinerten Speisen zum Munde zu führen.) Warum nicht Finger? (Weil es kannibalisch ist und unhygienisch.) Wieso nicht mit den Fingern vom eigenen Teller? (Weil es peinlich ist, sich die Finger schmutzig zu machen) - die Gabel wird zum Maßstab für den Peinlichkeitsstandard. Erhellend, wie Elias die Veränderungen im Trieb- und Affekthaushalt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts an der Unzahl von Geboten und Tabus rund um den Tisch beschreibt. Das Verbot, das Essen mit dem Messer zum Munde zu führen, hat sich bis heute gehalten, obgleich sich keiner dabei verletzt haben dürfte. Doch so gespreizt wir das Messer auch halten mögen, anderen Kulturkreisen gilt allein sein Vorhandensein bei Tisch als barbarisch. Während wir mit Messer und Gabel Beute machen, dienen beispielsweise Stäbchen zum harmonischen Füttern. Das Stäbchen ist das Essinstrument, das sich weigert zu schneiden, zu reißen, zu verstümmeln und zu stechen. (Roland Barthes). Mord und Totschlag gehören in die Küche.
Wo Gotthard Scholz und Torsten Meinicke in ihrer Reihe texte und tannine sonst Schriftsteller bemühen, um Weinlesereisen in den Piemont oder nach Venetien, hören zu lassen, mischt der Herausgeber Gotthard Scholz jetzt leicht verdaulich Grundsätzliches. Er lässt Georg Simmel erläutern, warum Teller rund sind und, die Tischunterhaltung so neutral und allgemein wie das Weiß und Silber des Geschirrs sein sollte, wie gleiche Bildung und gleiche Sitten Menschen, die sonst wenig gemein haben, zur gemeinsamen Mahlzeit vereinen, warum Essen - eine der egoistischsten Handlungen der Menschheit, denn was der eine isst, kann der andere mit Sicherheit nicht kriegen -, zur gesellschaftlichen Kulthandlung gemacht wird: um sich die Beute zu teilen. Wenn Pierre Bourdieu dann die feinen Unterschiede bestimmt und den Hedonismus der Unterschichten freilegt, gerät Essen und Geschmack vollends zur Folge der Klassenzugehörigkeit. Wo der eine isst, was stark macht und langer vorhält, nimmt der andere Gesundes und nicht Dickmachendes zu sich. Wo bei den einen alles auf einmal serviert wird und nicht unbedingt gemeinsam gegessen werden muss, zelebriert die Oberschicht die verschiedenen Gänge, preist sie die Aufschiebung des Heißhungers als Genuss. Wie man eben von klein auf gelernt hat, Selbstdisziplinierung und Triebverzicht als zentralen Wertmaßstab zu akzeptieren. Guten Appetit, allerseits.
Buchbesprechung: Konrad Heidkamp (Die Zeit, 11. 07. 02)