Darina Tonkova
,,Engagement und Distanzierung" von Elias Norbert

Zum Autor:

Der Soziologe und Kulturphilosoph Norbert Elias (1897-1990) hat eine der ungewöhnlichsten Gelehrtenkarrieren dieses Jahrhunderts erlebt. Erst 1976, mit nahezu achtzig Jahren, gelang ihm mit der dritten Auflage seines Werkes Über den Prozeß der Zivilisation der große Durchbruch. Damit ist er von einem Außenseiter zu einem zentralen Theoretiker der Sozialwissenschaften avanciert. Elias verstand sich zeit seines Lebens nicht als Spezialist, sondern als Generalist, als ′Menschenwissenschaftler′. Schon in den dreißiger Jahren verknüpfte er Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Psychologie zu einer umfassenden Theorie des gesellschaftlichen Wandels. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist das Thema seiner Werke. Norbert Elias ist auch der Autor des von uns referierten Buches ,,Engagement und Distanzierung".

Das Buch enthält 3 Teile, die sich alle mit dem Problem der gesellschaftlichen Wissensentwicklung beschäftigen. 

Das 1. Kapitel , das von uns zusammengefaßt ist, hat den Titel ,,Engagement und Distanzierung"

Erscheinung: 1956 im englischen Original
Titel: ,, Problems of Involvement and Detachment"

Zu den Begriffen:

1. Engagement: Engagement nennt man eine innere Bindung an etwas, das Gefühl des inneren Verpflichtetsein zu etwas, einen persönlichen Einsatz.

2. Distanzierung: Ist der Gegenpol zu Engagement, nämlich Reserviertheit, abwartende Zurückhaltung.

I.. Man kann von der Einstellung eines Menschen nicht in einem absoluten Sinne sagen, sie sei distanziert oder engagiert. Normalerweise liegt Erwachsenenverhalten und -erleben auf einer Skala zwischen diesen beiden Extremen.

Die Begriffe Engagement und Distanzierung beziehen sich nicht auf zwei getrennte Gruppen psychischer Ereignisse, sondern sind Grenzbegriffe.
Die Begriffe beschreiben in der Regel Menschen und deren Äußerungen - also etwa Typen des Sprechens, Denkens und anderer Tätigkeiten, von denen sich einige durch eine höhere Distanzierung, andere durch ein höheres Engagement auszeichnen.
Nur bei Säuglingen kann man ein völliges Engagement feststellen. Völlige Distanzierung gibt es nur bei Geisteskranken.

Zwischen den beiden Polen liegt ein Kontinuum. Die Bestimmung der Position der Einstellung eines bestimmten Menschens innerhalb dieses Kontinuums bildet das eigentliche Problem.

Man kann Kriterien für die verschiedenen Grade von Engagement und Distanzierung herausfinden. Wenn man gegenwärtig von verschiedenen Graden des Engagements oder der Distanzierung spricht, dann bezieht man diese Aussagen allzu leicht ausschließlich auf individuelle Unterschiede des Verhaltens und Erlebens. Sicherlich kann der Grad von Distanzierung, den verschiedene Menschen der gleichen Gesellschaft in ähnlichen Situationen zeigen, recht unterschiedlich sein.


II. Laut Elias sind Menschen in Gesellschaften wie den unseren in Bezug auf übersinnliche Dinge mehr distanziert, als bei menschlich- gesellschaftlichen Dingen. Das Wissen bei übersinnlichen Dingen ist bei den meisten Personen nicht so groß. Wenn man Dinge bereits weiß, distanziert man sich nicht so sehr.

Die Art und Weise in der einzelne Mitglieder einer Gruppe etwas erleben, ist von dem Standard des Wissens abhängig, den ihre Gesellschaft jeweils im Laufe ihrer
Entwicklung erreicht hat.

Der Grad der Distanzierung variiert von Individuum zu Individuum und von Situation zu Situation. Menschen einer bestimmten Gruppe bedienen sich gemeinsamer Begriffe, wenn sie miteinander verkehren.

Im Laufe der Zeit hat sich die individuelle Variationsbreite der Distanzierung geändert. Frühergab es eher parteipolitische und religiöse Wertungen, die eher als subjektiv angesehen werden mußten. Heutzutage ist eher der Erkenntniswert eines Forschungsresultates wichtig, welcher eher als objektiv bezeichnet werden kann.
Aber der wissenschaftliche Zugang zur Natur verlangt nicht die völlige Auslöschung mehr engagierter Zugangsformen.

III. Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften

Naturwissenschaften sind dadurch gekennzeichnet, daß Meinungen von einzelnen nicht mitgerechnet werden, das heißt, daß sie nicht durch außerwissenschaftliche Gesichtspunkte bestimmt sind.

Sozialwissenschaften, im Gegensatz dazu, bewerten die Meinungen von außen sehr hoch. Bestimmte Personen oder Gruppen reden mit.

Wie die andere Menschen lassen sich jedoch auch die Naturwissenschaftler bei ihrer Arbeit in gewissem Ausmaß von persönlichen Wünschen und Neigungen leiten. Oft genug sind sie durch bestimmte Interessen von Gruppen, zu denen sie gehören, beeinflußt.

In der Erforschung der Natur haben Menschen und insbesondere Wissenschaftler gelernt, daß ihre wissenschaftliche Arbeit aufs schwerste beeinträchtigt, wenn nicht sogar zur Gänze zunichte gemacht wird, wenn von außen her Personen oder Gruppen mitbestimmen bzw. mitreden. Nur die Erkenntnisse der Forschungsarbeit dürfen gewertet werden.

Engagiertere Formen des Denkens bleiben in Gesellschaften wie den unseren ein für sich bestehender Bestandteil der Naturerfahrung.
Sie werden jedoch in diesem Erfahrungsbereich mehr und mehr durch andere Denk- und Wahrnehmungsformen überlagert.

Früher hatten die Menschen wenig Kontrolle über Naturgewalten und lebten deshalb in extremer Unsicherheit, die sie mit Phantasien zu verdecken versuchten.
Sie waren außerordentlich engagiert, konnten also ihre Gefühle in bezug auf die Natur nicht kontrollieren und sich keine distanzierten Vorstellungen über Naturereignisse bilden.

Im Laufe der Zeit fand ein Wandlungsprozeß statt. Die Kontrolle über Naturereignisse erhöhte sich. Man kann diesen Prozeß bezeichnen als ,,Dynamik der zunehmenden Erleichterung".

Je mehr es dem Menschen gelang, Naturereignisse zu seinen Gunsten zu manipulieren, desto leichter wurde es, den Kontrollbereich weiter auszudehnen.

Gegenwärtig kann man von einer Dreieinigkeit der Grundkontrollen sprechen.

Zu unterscheiden sind
1. Die Selbstkontrolle eines Menschen: Dies bedeutet, wie ein Mensch mit Naturereignissen gedanklich, aber auch praktisch umgeht.
2. Die Kontrolle ihres Zusammenlebens als Gesellschaften.
3. Die Kontrolle von nicht -menschlichen Naturgewalten bei ihrer Handhabung.

Alle drei sind untereinander abhängig.

Es handelt sich hierbei aber nur um einen Teilprozeß der Menschheitsentwicklung, der nicht immer so verlaufen muß, da immer mehr soziale Spannungen und Konflikte auf den Menschen einwirken.

IV. Je mehr die Menschen es verstehen, Naturgewalten zu begreifen, und für eigene Zwecke zu verwenden, desto mehr verändern sich die Beziehungen der Menschen zueinander.

Die wachsende Anzahl von Menschen gerät immer mehr in eine gegenseitige Abhängigkeit. Ohne daß die einzelnen Menschen es verstehen, werden sie immer mehr in bezug auf ihre Sicherheit und Bedürfnisbefriedigung von einander abhängig.

Die Menschen werden vor sich hin getrieben, ohne daß sie sich selbst noch kontrollieren und die Richtung bestimmen können. Die Veränderungen in der Gesellschaft ergeben sich von selbst, und die einzelne Person muß damit fertig werden. Manche gewinnen dadurch, andere jedoch begeben sich ungewollt in eine Verliererposition. Durch diese Entwicklung ergeben sich in der Menschheit immer wieder Spannungen und Konflikte.

Es gibt hier einen Teufelskreis, dem das einzelne Individuum nicht oder nur schwer entrinnen kann: Dadurch, daß die Menschen so voneinander abhängig sind, engagieren sie sich in der Gesellschaft. Andererseits sind sie ichbezogen und möchten sich deshalb distanzieren.

Ein Beispiel eines Philosophen macht diesen Teufelskreis sehr gut anschaulich:
Paul sprich über Peter. Indirekt erzählt er aber mehr über Paul, also über sich selbst. Pauls Aussage ist hiermit ,,engagiert".
Spricht er jedoch mehr über Peter, als über sich selbst, dann beginnt sich die Balance zugunsten der Distanzierung zu verschieben.

V. Das allgemeine Ziel wissenschaftlicher Arbeit ist es, zu entdecken, wie und warum wahrgenommene Ereignisse miteinander zusammenhängen. Die Gesellschaftswissenschaften beschäftigen sich mit Zusammenhängen von Menschen.

Die Menschen begegnen sich selbst und einander; sie sind zugleich ,,Objekte" und ,,Subjekte".

Die Sozialwissenschaftler versuchen nun, die Verhaltensmuster der Menschen und die damit zusammenhängenden Bindungen zueinander, zu erklären und sich und anderen verständlich zu machen.

Sie befinden sich in einer Konfliktsituation. Sie sind zwar engagierte Vertreter der Gesellschaft, müssen sich aber von den Ereignissen distanzieren, um objektiv die Probleme zu beschreiben.

Je komplexer die menschlichen Beziehungen werden, desto größer werden die sozialen Probleme. Diese können meist nicht mehr in einer herkömmlichen Weise gelöst werden, sondern erfordern Untersuchungen von Wissenschaftlern. Diese Wissenschaftler wiederum müssen objektiv, also distanziert sein.

Das Forschungsziel, die Probleme und Lösungen der Probleme der Menschen zusammenzufassen und zu vereinheitlichen, rückt in immer weitere Ferne und ist für manche Menschen unerreichbar und auch überhaupt nicht mehr wünschenswert.

Sozialwissenschaftler arbeiten und leben in einer Welt, in der überall menschliche Gruppen verwickelt sind in Positions- und Überlebenskämpfe.
Die Spezialisten sind oft in diese Konflikte dadurch einbezogen, daß sie solchen Gruppen angehören. Sie sind nicht immer objektiv und entsprechend engagiert.

Das Dilemma:

Das Dilemma ist nicht die Ratlosigkeit und Unsicherheit einzelner Sozialwissenschaftler, sondern die der Sozialwissenschaftler als Berufsgruppe.

Die Wissenschaftler stehen vor dem Problem, daß sich ihre Funktion als Gruppenmitglieder nicht mit ihrer Funktion als Wissenschaftler deckt.

Sie können jedoch nicht einfach ihre Funktion als Gruppenmitglieder aufgeben, da ihre eigene Teilnahme, ihr Engagement, eine Voraussetzung dafür ist, daß sie die Probleme verstehen, die sie als Wissenschaftler zu lösen haben.

Um die Struktur eines Moleküls zu verstehen, braucht man nicht zu wissen, wie man sich als eines seiner Atome fühlt. Hingegen, um die Funktionsweise menschlicher Gruppen zu verstehen, ist es unerläßlich, auch als Insider zu wissen, wie die Menschen ihre eigenen Gruppen und andere Gruppen sehen. Ohne aktive Beteiligung und ohne Engagement an der Gruppe kann man dies jedoch nicht wissen.

VI. Laut Eliasähneltder Universalbegriff ,,die wissenschaftliche Methode", einem Universalbegriff ,,Tier", also einem Sammelbegriff, der nicht auf einzelne Tierarten, einer einzelnen Phase des Entwicklungsprozesses eingeht.

Die wissenschaftliche Methode kann auf alle anderen Gebiete, also auch auf die Menschenwissenschaften übertragen werden. Man achtet hierbei nicht auf die oft sehr verschiedenen Arten der Probleme.

Menschen, die versuchen, Probleme eines neuen Typs zu formulieren und zu erforschen, verwenden Begriffe und Lösungen von anderen Gebieten, bei denen ihre Tauglichkeit bereits bewiesen worden ist.

Bei den physikalischen Wissenschaften gibt es eine spezielle Methode der Problemlösung und der Überprüfung von Theorien. Diese Art der Problemstellung setzt einen hohen Grad an Distanzierung voraus.

Bei den Sozialwissenschaften findet dieselbe Methode Verwendung für die Erforschung von Problemen und Theorien, die unter dem Einfluß eines starken Engagements aufgestellt und untersucht werden.

Eine Methode, die einer physikalischen Wissenschaft ähnelt und in der Sozialwissenschaft verwendet wird, erscheint oft so, als sei ein hoher Grad an Distanzierung vorhanden, es ist aber in Wirklichkeit nicht so. Hinter der distanzierten Fassade befindet sich oft sehr viel Engagement.

Es stellt sich die Frage der Auswahl der Verfahren und der Techniken im Bereich der physikalischen Wissenschaften und im Bereich der Sozialwissenschaften. Welche sind vereinbar?

Oft neigen Wissenschaftler dazu, zu versuchen, Fragen, die nicht so wichtig sind, zu beantworten, und sie lassen Fragen, die wichtiger wären, außer Acht, nur, damit sie in ihre Methoden passen.

Bei einer empirischen Untersuchung gibt es eigentlich kein ,,wahr" oder ,,falsch". Es gibt nur schlüssigere Hypothesen oder Theorien, oder weniger schlüssige.

Bei der Erarbeitung von Problemlösungen gibt es zwei Wissensebenen:

1. die Ebene allgemeiner Ideen, Theorien und Modelle
2. die Ebene der Beobachtungen, der Wahrnehmung bestimmter Ereignisse

Wenn eine Beobachtung nicht durch eine Theorie bestätigt wird, verwirrt sie nur. Wird eine Theorie nicht durch eine Beobachtung bestätigt, werden Phantasien und Gefühle, die nicht unbedingt richtig sind, hervorgerufen.

VII. Messungen und mathematische Operationen können nicht immer zur Lösung eines Problems beitragen. Physikalisch-chemische Wissenschaften, zum Beispiel, sind leichter meßbar, andere Wissenschaften sind weniger dafür geeignet.

Die Erforschung von anorganischen Stoffen ist weniger komplex, als diejenige von organischen Stoffen. Die größte Komplexität hat der Mensch. Je mehr aufeinanderwirkende Faktoren und Variablen existieren, desto komplexer ist die Erforschung.

Es gibt eine grundsätzliche Richtlinie, ein Grunddogma. Will man das Verhalten von Beobachtungseinheiten erkennen, ist es leichter, diese zu zerteilen und die einzelnen Teile zu messen. Je größer die Anzahl der einzelnen Teile wird, desto höher wird die Anzahl der Messungen, und desto komplizierter die Art der mathematischen Operationen.

Oftmals werden die Untersuchungen so kompliziert, daß sich Wissenschaftler mit weniger präzisen Angaben zufrieden geben, weil bessere Messungen einfach fast unmöglich wären.

Man erwartet, daß sämtliche Forschungsprobleme allein durch Messungen von Quantitäten befriedigend gelöst werden können. Dies ist aber nicht immer der Fall.

Man muß auch beachten, wie die Variablen und Faktoren miteinander verknüpft sind, wie sie aufeinander einwirken. Allein die Menge der Messungen zählt nicht.

Es gibt ein Modell, in dem festgehalten wird, wie die zusammengesetzten Teile der integrierten Einheiten aneinander gebunden sind.

Es existieren zwei Pole:

Am ersten Ende: Allgemeine Modelle: Haufen, Mengen, Vielheiten, Anhäufungen, die sehr unabhängig voneinander sind.

Am zweiten Ende: Modelle von Einheiten, von Prozessen, die in hohem Maß voneinander abhängig sind.

Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß Teilereignisse permanent miteinander verknüpft sind, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß Gesetze als Werkzeuge für die Forschung nicht mehr so wichtig sind.

Man benötigt dann bildliche Darstellungsformen und Modelle zur Abbildung von Prozessen, um zu Erkennen, wie und ob die Teilereignisse miteinander verbunden sind.

VIII. Oft sind mehr als zwei Ebenen zu berücksichtigen, da Prozesse einer hohen Organisationsstufe oft Teileinheiten haben, die ihrerseits hochorganisierte Prozesse darstellen, die wiederum in komplexe Organisationseinheiten gegliedert sind. So kann sich eine Vielzahl von miteinander verflochtenen und verschachtelten Ebenen ergeben.

Will man eine dieser Ebenen erforschen, sind Kommunikationsverbindungen mit Forschern, die andere Ebenen untersuchen, notwendig. Viele Spezialisten sehen aber nicht über ihr eigenes Arbeitsfeld hinaus, ziehen aber Schlußfolgerungen für Probleme, die mehrere Ebenen oder gar die gesamte Darstellung betreffen.

Werden Methoden einfach wahllos nachgeahmt, die bei der Untersuchung von Einheiten mit einem niedrigem Organisationsniveau erfolgreich sind, kann es bei der Untersuchung höher organisierter Einheiten zu einem Gewirr falscher Problemstellungen kommen. Auch die Unterfiguration kann Zusammenhangsstrukturen aufweisen, die von der jeweiligen Teilstruktur verschieden und nicht von ihr ableitbar sind.

Für viele Probleme ist es zu schwierig, sofort eine Lösung zu finden. Zuerst muß man danach trachten, überhaupt ein mögliches Modell einer Lösung zu finden, das einigermaßen gut auf das verfügbare Belegmaterial paßt.

Nicht das Belegmaterial bedarf einer Prüfung, sondern die Art der verfügbaren Modelle.

Es gibt jedoch Problemtypen, die einen anderen Zugang erfordern. Man muß sich klarmachen, daß die beobachtbaren Einheiten Eigentümlichkeiten haben können, die sich nicht aus ihren Teilen erschließen lassen.

Während man bei menschengeschaffenen Maschinen deren Funktion noch durch Untersuchung der einzelnen Teile verstehen kann, ist das bei Tieren längst nicht mehr der Fall, besonders wenn man auf der evolutionären Stufenleiter weiter hinaufsteigt.

Obwohl Tiere auch nur aus einer Vielzahl physikalischer Partikel bestehen, weisen sie doch komplexe Struktureigentümlichkeiten auf, die denen physikalischer Gebilde nur in geringer Hinsicht ähnlich sind. Man kann ja auch nicht das menschliche Verhalten durch Untersuchungen des Tierverhaltens erklären, obwohl dies nicht ungewöhnlich ist und in der Praxis oft vorkommt. Während Menschen zum Teil wie Tiere funktionieren, funktionieren und verhalten sie sich als ganzes jedoch wie kein anderes Tier.

Es wird natürlich auch über das Verhältnis von "Individuum" und "Gesellschaft" gestritten, wobei man zwei mehr oder minder unversöhnliche Lager unterscheiden kann. Die einen verstehen die Gesellschaft als Resultat der Absichten und Handlungen einer Masse von Einzelmenschen, mit ihren Eigentümlichkeiten und ihrer Entwicklung. Die anderen sehen die Gesellschaft so, als existiere sie in irgendeinem Sinne außerhalb und getrennt von den einzelnen Menschen, die sie bilden.

Was sind nun die Rechte und die Pflichten des Individuums? Soll das Wohl der Gesellschaft dem der Individuen übergeordnet sein? Die Frage, wie dieses Verhältnis sein soll, verschleiert die wichtigere Frage, wie dieses Verhältnis wirklich ist. Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft weist Züge auf, die nicht ganz der Struktur von Teileinheit/Gesamteinheit entsprechen, zeigt aber viele Eigentümlichkeiten dieser Struktur und die damit verbundenen Probleme auf.

Alle Gesellschaften haben die allgemeinen Kennzeichen von strukturierten Figurationen mit Unterfigurationen auf mehreren Ebenen, von denen Individuen als Individuen nur eine bilden.

Als Gruppen organisiert, bilden sie zahlreiche andere Unterfigurationen wieFamilien, oder auf einer höheren Ebene, als Gruppen von Gruppen, Dörfer oder Städte, Klassen oder Industriesysteme und viele ähnliche Formationen, die ineinander verschachtelt sind und zusammen eine umfassendere Figuration mit einem jeweils spezifischen Machtgleichgewicht bilden können, wie etwa Stämme, Stadtstaaten oder Nationalstaaten. Eine solche umfassende Struktureinheit kann selbst Teil einer weniger organisierten, weniger gut integrierten Einheit sein: z. B. Nationalstaaten bilden nur ein System der Machtbalance.

Die größte Einheit muß dabei nicht die am höchsten integrierte und organisierte sein. Jene Figuration mit der höchsten Stufe der Integration und organisierten Macht wird am fähigsten sein, ihren eigenen Kurs zu steuern. Sie bestimmt dann auch die Struktur und Entwicklung ihrer Teileinheiten, einschließlich ihrer individuellen Mitglieder.

Diese Gebilde besitzen in unterschiedlichem Ausmaß an Autonomie. Das Verhalten der untergeordneten und vor allem der übergeordneten Figurationen läßt sich nicht so einfach durch Begriffe beschreiben. Ebenso können zusammengesetzte Gebilde nicht als Wirkung erklärt werden, deren Ursache die zusammengesetzten Teile sind.

Richtet man seine Aufmerksamkeit nur auf die einzelnen Menschen, wird man die Struktureigentümlichkeiten der Gesellschaft nicht verstehen. Soziologen, welche die Abhängigkeit der sozialen Gegebenheiten von den Individuen vernachlässigen, sind meist vorher durch die Tatsache verwirrt worden, daß sich die Regelmäßigkeiten zusammengesetzter Einheiten nicht eindeutig durch individuelle Regelmäßigkeiten erklären lassen haben.

Manche Probleme können nicht gelöst werden, weil die Tatsachenbasis dafür zu schmal ist, andere weil sie als Problem falsch gestellt sind, nachdem gedankliche Modelle von einem Zusammenhang auf einen anderen unkritisch übertragen wurden.

Manche Schwierigkeiten in den Sozialwissenschaften beruhen auf einer unzulänglichen Grundidee, einer fehlenden Richtschnur für die Beobachtung und Handhabung von Fakten.

Es gibt zwei Kategorien von Modellen:

1. die Betrachtung sozialer Ereignisse in der weiteren Gesellschaft;
2. die Betrachtung, wie Probleme bezüglich der "Natur" im Bereich der Naturwissenschaften gelöst werden.

Modelle des ersten Typs werden von Sozialwissenschaftern oft unabsichtlich benutzt, da sie Begriffe, die sie bei ihrer Arbeit benutzen, nicht von jenen aus ihrem alltäglichen sozialen Leben unterscheiden können.

Dies ist ein Fall völligen Engagements, es gibt aber auch denn umgekehrten Fall der völligen Distanzierung.

Modelle des zweiten Typs, des der Naturwissenschafter, werden von Sozialwissenschaftern oft unbewußt kopiert. Vor allem unter dem Druck der Ungewißheit, die auch mit der Stärke emotionalen Engagements zu tun haben kann, greift man relativ leicht zu fertigen Modellen, um Gewißheit zu erlangen, egal ob man damit wissenswerte oder belanglose Zusammenhänge erkennen kann. Hier kann man von Pseudo-Distanzierung sprechen.

Probleme der physikalischen Wissenschaften haben als Bezugsrahmen Modelle eines relativ niedrigen Organisationsgrades. Solche einfachen Modelle existieren auch in den Sozialwissenschaften, sind dann aber meist Teile weit höher organisierter Einheiten.

Daher bringen Methoden, die aus den physikalischen Wissenschaften stammen, nur relativ geringen Nutzen. Das Wissen, das man über die Eigenheiten isolierter Teile gewinnt, sollte man nur im Lichte der Eigentümlichkeiten der ganzen Einheit beurteilen und interpretieren.

source: http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/soc/7706.html