Norbert Elias:

Studien über die Deutschen.

Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert

Suhrkamp: 1998, 555 Seiten



Es geht hier nicht nur um das eine Buch, sondern um die dahinterstehende Theorie am Beispiel dieses Buches. Da meines Erachtens >>linke<< Politik nur in aufklärerischer Richtung Zukunftsfähigkeit verspricht und dem nicht mit abgedroschenen Entwicklungstheorien über Klassengegensätze entsprochen werden kann, erscheint mir eine Theorie wie die von Elias durchaus eine gute Ausgangsbasis für neue Diskussionen zu sein. Die theoretischen Ausführungen von Elias sind unglaublich komplex und so beschränke ich mich lediglich auf einen winzigen Ausschnitt. Entwicklungstheorien, welche zielgerichtete gesellschaftliche Entwicklungen betonen, sind zwar besser – vor allem für die >>Linke<< – zu handhaben und bieten Raum für überschwengliche Überzeugungsarbeit, sind jedoch kaum mehr als Analyseinstrument für die gegenwärtig ablaufenden Vorgänge zu gebrauchen (so schwer die Erkenntnis auch fallen mag). Im Gegensatz dazu betont Elias in seiner theoretischen Herangehensweise die >>Prozeßhaftigkeit<< der gesellschaftlichen Vorgänge und verweist damit auf Veränderungen, die in ihrer Richtung offen sind. Soviel zum groben Rahmen der folgenden Ausführungen.

Wie es dem kapitalistischen System in Zeiten der >>pluralisierten<< Interessenlagen gelingt, die in verschärfte Widersprüche gespaltene Gesellschaft zusammenzuhalten, darauf gibt Norbert Elias im oben erwähnten Buch indirekte Antwort, denn „in latenter oder manifester Form ist der Nationalismus eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts.“
Die Integration der Gesellschaft über alle Widersprüchlichkeiten und Konflikte hinweg leistet entscheidend die Ideologieform der Nation. Als gesellschaftlicher Integrationsmechanismus ist sie weit mehr als ein Komplex praktischer Normen und Werte. Sie wirkt als herrschaftsförmiger Vergesellschaftsprozeß, welcher durch die Habitualisierung von Fremdzwängen begründet wird. Der nationale Ethos wird verinnerlicht und wird so zur Routine in der Alltagswelt. Wie ein festgeschnürtes Korsett legt es sich um die Menschen und erzeugt dabei eine dauerhafte affektive Bindung an das Kollektiv, welches „mit einer sehr speziellen emotionalen Aura umkleidet“ erscheint „als etwas höchst Wertvolles, Sakrosanktes, dem Bewunderung und Verehrung gebührt“. „Bewunderung und Verehrung“ für etwas, das die Menschen in herrschaftlich-imaginäre Beziehungen zueinander setzt. Das ist gemäß Elias Ausführungen dann der nationale Habitus, welcher Auschwitz ermöglichte.
Hinter diesen theoretischen Ausführungen steht ein Augenzeuge, der nahezu 90 Jahre lang den Gang der Ereignisse miterlebte. Ihm zufolge sind nicht „deutsche Chromosomen“ oder eine besondere Logik des „deutschen Kapitalismus“ an der Einzigartigkeit der deutschen Nation schuld, sondern ihre >>Soziogenese<< und >>Psychogenese<<. Diese haben sie als Feinde der Zivilisation gestählt, Feinde, die ihr zivilisatorisches Minus als >>kulturelles<< Plus zu fühlen nie aufgehört haben und das dem anderen >>Gesindel<< immer wieder zeigen müssen. Die Psychogenese beinhaltet psychische Regulation der Menschen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Um auf Dauer wirksam zu werden, müssen sich Fremdzwänge, welche gesellschaftliche Verbote jeder Art sein können, in Selbstzwänge verwandeln, die automatisch, blind und unabhängig von situationsabhängigen Sanktionen wirken. Der Prozeß der Zivilisation soll damit erklärt werden. In diesem Zusammenhang macht Elias darauf aufmerksam, daß die Habitusentwicklung der Deutschen nicht mit der in zivilisierten Nationen Schritt hielt. Obwohl sich das Buch auf Deutschland im zweiten Weltkrieg bezieht und manche vielleicht behaupten werden, daß Deutschland in den letzten fünfzig Jahren seine Zivilisationsdefizite aufholte, gibt die Prozeßannahme hinreichend Raum, die Wiedervereinigung Deutschlands und dessen Folgen(1) als das Hervorbrechen der unzivilisierten(2), eigentlich überformten, affektiven Bindung an das nationale Kollektiv zu verstehen. Und genau diese mögliche Konditionierung würde meines Erachtens auch die Ausführungen von Stephan Grigat letzten Monat im Rahmen einer Verantstaltung der Antinationalen Gruppe zu Österreich untermauern.(3) Eine solche Herangehensweise würde auch den Wandel zu >>Bürgern als Kleinststaaten<<(4) und zum Volksentscheid und deren Resultate vielleicht erklären können. Auf jeden Fall halte ich sie für plausibel. Die deutsche Gesellschaft braucht keinen Staat mehr, da die vom Staat lancierten Entscheidungen auch die Entscheidungen der Bürger sind. Und wie es nun zum rechten Konsens in der deutschen Gesellschaft kommen konnte, ist auch geklärt. Poldi
Fußnoten:
(1) Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Sollingen, Lübeck usw.
(2) Unzivilisiert deshalb, weil die gegenwärtige Zivilisationsstufe, gemäß Elias, eher das Verblassen der Wir-Identität prognostiziert. Die Dominanz der Ich-Identität gegenüber der Wir-Identität wäre die nächst höhere Zivilisationsstufe und ist in Deutschland bzw. auch Österreich nicht erreicht worden. Elias würde in dem Fall von Entwicklungsrückschlägen sprechen.
(3) siehe Grigats Text in dieser Ausgabe
(4) Diese Formulierung stammt von Stephan Grigat.

Quelle: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/66/16.html