Der Sport beansprucht als "eine der großen
sozialen Erfindungen, die die Menschen hervorgebracht haben, ohne dass sie es
geplant hätten" im Werk Norbert Elias' eine dominante Stelle. Zusammen mit
seinem Schüler Eric Dunning publizierte er 1986 über diese Art von
Freizeitgestaltung eine Sammlung von Aufsätzen, die zum Teil bis in die
sechziger Jahre zurückreichen. Dieser Band erscheint nun zum ersten Mal ins
Deutsche übersetzt in der Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags.
Der Rahmen, in dem die "große soziale Erfindung" Sport aufkeimt, ist
der Zivilisationsprozess. In der Einführung nutzt Elias die Gelegenheit, seine
Einsicht über die durch die Jahrhunderte hindurch wachsende Affektkontrolle,
die er schon in seinem Hauptwerk beschrieben hat, noch einmal zu präzisieren.
Mit der ihm eigenen Nachdenklichkeit, die liebevoll mit den Phänomenen,
unbeugsam mit der Theorie und zartfühlend mit dem Fassungsvermögen des Lesers
umgeht, entrollt er eine Geschichte des Sports und zugleich das Modell einer
spezifischen Art von sozialer Kommunikation.
Die Anfänge des heutigen Sports liegen im England des 18. Jahrhunderts und sind
wesentlich an die Entstehung einer parlamentarischen Staatsform gebunden. Die
Voraussetzungen für beide, Demokratie wie Sport, forensischer Auftritt wie
Wettspiel, sind dieselben: Die Beteiligten müssen bereit sein, einander den
Sieg freiwillig und ohne Gedanke an Rache zu überlassen.
Am Boxsport zeigt Elias, wie die Möglichkeiten zu spontaner Aggression im Laufe
der Jahrhunderte immer mehr eingeschränkt wurden; der Leser bekommt den
Eindruck, dass, verglichen mit den Praktiken des bäuerlichen Boxens, ein
Faustschlag aufs Nasenbein, wie er heute gerade noch erlaubt ist, eine wahre
Liebesbezeugung darstellt. In einem Aufsatz widmet sich Elias der Fuchsjagd: Die
Aristokratie gibt, den humanitären Ideen des 18. Jahrhunderts folgend, die Tötung
des Fuchses auf, überlässt dies ihren Hunden und genießt stattdessen
"nur" das Schauspiel der Gewalt. Prinz Charles scheint Elias nicht
gelesen zu haben, sonst würde er sich gegen die notwendig fortschreitende
Zivilisierung nicht stemmen und damit drohen, nach Australien auszuwandern,
falls das Parlament nun die Fuchsjagd überhaupt verbietet.
Die Voraussetzung für den Siegeszug, den der Sport von England aus antrat, ist
also auf eine "wachsende Sensibilität im Bezug auf Gewalt" zurückzuführen.
Die Disziplinierung allein jedoch reichte nicht aus, um den Sport zum weltweiten
Freizeitvergnügen werden zu lassen. Es bedurfte einer sozialen Verschiebung,
wie sie so früh nur in England geschah, wo "die herkömmlichen Regeln
volkstümlicher Spiele entsprechend den Bedürfnissen der Gentlemen abgeändert
wurden". Die Gentry entmachtete im frühen 18. Jahrhundert gleichzeitig den
König und die Bauern, sie bemächtigte sich der Landschaft wie des Parlaments.
Die körperlichen Vergnügen konnten nun von der siegreichen Oberschicht übernommen
werden und wurden für sie bald zum Statussymbol.
Das Verhalten, das die politischen Opponenten im Parlament, die Whigs und die
Tories, übten, alle Eigenschaften, die sie bei ihren Redeschlachten
entfalteten: Fairness trotz Aggression, gegenseitigen Respekt trotz Opposition,
die Verbindung eines Siegesbewusstseins mit der Achtung vor dem Gegner, gingen
ins Erziehungsprogramm der Oberschicht ein und wurden in den Eliteschulen im
sportlichen Wettkampf geübt. Nachdem Elias, der Geschichte folgend, diesen
edlen, wenngleich elitären Menschen modelliert hatte, konnte es ihm nicht
entgehen, dass mittlerweile im Sport ganz andere Regeln der Kommunikation
gelten. Nun aber geht es Elias nur scheinbar um eine Sozialgeschichte des
Sports, tatsächlich interessiert ihn seine Phänomenologie, die, wenngleich aus
der Geschichte gewonnen, doch die Geschichte nicht weiter verfolgt und jüngste
Ausprägungen nur unvollständig reflektiert.
Inzwischen ist der Sport wieder der Elite entwendet und erneut zur
Volksbelustigung geworden. Das Buch müsste nicht in England und dort nicht in
den achtziger Jahren entstanden sein, wenn es nicht unter all den neuen
Erscheinungen des sportlichen Lebens ausschließlich die Wiederkehr der Gewalt
thematisierte. Nicht zufällig aber bleiben die Kapitel über die Hooligans dem
Mitarbeiter Eric Dunning überlassen. Aber auch auf der Seite des Zuschauers ist
inzwischen die Geschichte über Erscheinungen hinausgegangen, die der Band noch
wahrnimmt. Der jüngste Aufsatz, der über "Zuschauerausschreitungen",
entstand 1984. Seither wurden dem Zuschauer auf dem Sportplatz andere Funktionen
oktroyiert, die ihre Passivität regulieren. So ist er heute mehr Warenkonsument
als Fan, denn seine Aufmerksamkeit auf das Spiel wird in Wahrheit von der
Werbung abgezogen und auf den Kauf gelenkt statt auf die Rauferei. Diese würde
nicht verfangen, würde sie auf den Trikots von armen Fabrikarbeitern vorgeführt
werden. Die Sportler müssen deshalb künstlich zu Geldbaronen nobilitiert, die
Unterschicht zur Oberschicht stilisiert werden, damit, was sie versprechen,
verlockend erscheint.
Für solche Ökonomisierung des Sports haben Elias und Dunning keinen Blick. Der
Sport bleibt für sie ein Spiel und ist immer ein kollektives Vergnügen. Die
Vereinsamung, die dem Sportler beim Fitnesstraining widerfährt, wie überhaupt
der Gesundheitsport, bei dem eher die Angst den Körper bewegt, weniger die
Lust, werden nicht bedacht, obgleich zumindest seit Beginn des 20. Jahrhunderts
solch vereinsamender sportlicher Masochismus massenhaft betrieben wird. Elias
sieht im Sportler den edlen Charakter, der sich einen idealen Körper schafft. Für
ihn wäre es eine Erniedrigung, wenn der Sport dem Geschäft, dem Geldverdienen
und der Lebensverlängerung dienen sollte.
Norbert Elias / Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozess der
Zivilisation. Übersetzt von Detlef Bremecke, Wilhelm Hopf und Reinhardt
Peter Nippert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt / M. 2003, 504 Seiten, 34,90 €.
Quelle: Franfurter Rundschau online: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/das_politische_buch/?
sid=7c075041cc7b7902e132cf0877b1e3f3&cnt=222844