Zwischen Pose und tiefem Gefühl
Innenleben und Geschichte: Norbert Elias in seinen
Gedichten
22. Juni 2004 Können
Soziologen dichten? Schon die Frage klingt nach Hohn und Spott. Ihre
durchschnittliche Prosa gibt jedem Zweifel recht. Aber zuweilen kommt es vor,
daß ein Dichter auch Soziologe ist. Die Poesie wird dann einen schweren Stand
haben gegenüber dem Fachjargon, aber sie kann durchbrechen, und wer das Glück
hatte, Norbert Elias als Vortragenden zu hören, mit der weichen und variablen
Intonation seiner Stimme bis ins hohe Alter, der schlägt den soeben
erschienenen Lyrikband "Gedichte und Sprüche" mit Erwartung auf.
Der weltberühmte Soziologe Norbert
Elias ist 1897 in Breslau geboren, hat bei Husserl und Heidegger studiert,
wurde 1930 in Frankfurt Assistent von Karl Mannheim, emigrierte 1933 zuerst
nach Frankreich, dann 1935 nach England, lebte seit 1984 in Amsterdam und ist
dort 1990 gestorben. Das war ein langes, ein zwangsweise europäisiertes
Leben. Davon lassen sich seine Gedichte nicht gänzlich ablösen; sie spiegeln
dieses Leben, sie reflektieren es, und sie widersprechen ihm. Kindheitsträume
kommen zu Wort, überschattet von Schreckensvisionen eines mächtigen Vaters.
Dessen Bild weitet sich aus zu dem eines schrecklichen Gottes, von dem ein spätes
Gedicht Abschied nimmt. Dieser Gott mit seinem Gefolge regierte "wie ein
mächtiger Fürst / gleichgültig, milde und mitleidlos je nach Laune".
Die Gedichte, leider nur selten datierbar, lassen sich nach Jahrzehnten
gruppieren: Den Kindheitsängsten folgen die realeren Schrecken der
Nationalsozialisten und des Krieges, die Schwierigkeiten der Liebe, die
Paradoxien im Verhältnis von Frau und Mann: "Noch sind die Entfernungen
groß zwischen / Mensch und Mensch".
Es folgen Reflexionen über das Dichten, und das heißt: über das Mißverhältnis
von Poesie und Publikum. Der Dichter spricht seine Leser an; im Bewußtsein
der Differenz sagt er ihnen über seine Gedichte: "Sie kommen mich teuer
/ für Damen und Herren Gunst / Ich singe in Schmerz und Feuer / Ihr nippt an
der Kunst."
Er denkt nach über seine fachlichen Bücher und leidet am Kontrast von
Literatur und Leben. Sie verschweigen die "unbedachte Tiefe"; daher
lassen sie Raum für die Lyrik. Mehr noch: Sie beweisen ex negativo die
Notwendigkeit von Gedichten und deuten zugleich auf semantischen Spielraum in
der wissenschaftlichen Prosa hin, die nicht, wie es gerade bei Elias geschehen
ist, als Thesenstück gelesen werden soll, sondern "wie Menschen", nämlich
offen und "vielbedeutend".
Der schmale Gedichtband von Norbert Elias ist zu reich an Motiven, um auf eine
Formel gebracht zu werden. Die einzelnen Gedichte sind uneinheitlich, man möchte
sagen: suchend in ihrer Form. Aber sie haben ein gemeinsames Charakteristikum:
In ihnen durchdringt sich, was sonst getrennt steht. Das beginnt schon damit,
daß fremde Dichter in der Nachdichtung von Elias auftreten und eigene
Gedichte in französischer und in englischer Sprache vorkommen. Die
Zeitgeschichte durchdringt das Innenleben; das eigene Ich filtert, bewertet,
akzentuiert das Außengeschehen. Die Liebe erscheint als Wechselwirkung, als
Zwischenspiel zwischen Personen, auch als Wechselspiel von Pose und tiefem Gefühl.
Permeabilität verbindet Schein und Sein. Durchlässig füreinander, spiegeln
sich Wissenschaftsprosa und Lyrik; neben den Gedichten stehen in diesem Band
die "Sprüche".
Die Lyrik von Norbert Elias ist sprachlich gestaltete Wechselwirkung und
Durchlässigkeit. Dadurch hat sie ihr einheitliches Thema. Aber hat sie auch
ihre einheitliche Form? "Form" nicht als Reimschema aufgefaßt,
sondern als den individuellen Ton, der es leichtmacht, etwa ein Gedicht von
Trakl oder George oder von Celan wiederzuerkennen, auch wenn kein
Verfassernamen genannt wird. Diesen Grad von lyrischer Bestimmtheit hat Elias
nicht erreicht; er hat gezögert, Gedichte zu publizieren; in Buchform hat er
es erst 1987 mit dem Band "Los der Menschen" getan. Die damals
ausgewählten Gedichte bilden nun den Hauptteil des achtzehnten Bandes der
Elias-Gesamtausgabe; sie werden ergänzt durch einige wenige Gedichte und Sprüche.
Dadurch wird dem Leser sehr Ungleichartiges und Ungleichwertiges geboten. Da
steht ein Gedicht von 1921, eine unbeholfene Stefan-George-Nachahmung, die
Elias selbst altmodisch vorkam, neben den freien Rhythmen des späten und
bedeutenden "Abschied von Gott", zuerst 1988 publiziert in der
Zeitschrift "Akzente".
Diese Beobachtung läßt nur einen Schluß zu: Einen Autor, den man schätzt,
gar liebt, verschone man mit einer Gesamtausgabe. Sie verhält sich zum
Schriftsteller wie die Pyramide zum Pharao: Man kommt nicht mehr an ihn heran.
Die einzelnen Texte verlieren die individuelle Bestimmtheit; sie locken nicht
mehr wie zuvor zum Lesen und Wiederlesen. Sie werden eingesargt und dienen zum
Nachschlagen. "Wissenschaftler" müssen "nachschlagen" und
denken daher nicht nach über den Hintersinn dieser Art des Schlagens nach
etwas. Der Leser von Gedichten muß das gerade nicht; er fixiert nicht die
Worte auf ihre punktuelle Bedeutung; er läßt sie sich weiterbewegen auf
ihrer kreisenden Bahn. Er füllt sich die Worte mit eigenem; er "trinkt
und lebt", wie Elias schreibt, sich "eins heraus". Rühmen wir
den Vollständigkeitseifer der Bibliothekare, die mit Gesamtausgaben ihre
Regale füllen und dafür mehr Dank und Geld verdient hätten, als sie
erhalten.
Der Freund der Gedichte folgt derweil Elias' eigenem Vorschlag: "Seht
selbst".
KURT FLASCH
Norbert Elias: "Gedichte und Sprüche". Gesammelte Schriften, Band
18. Bearbeitet von Sandra Goetz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 146
S., geb., 27,90 [Euro].
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
22.06.2004, Nr. 142 / Seite 38