"Knapp 40 Jahre später mag er (Elias) bemerkt haben, daß bei einer neuen linken Generation in Deutschland Fenichel wieder einen großen Namen hatte. Jedenfalls erinnerte er sich an den Austausch von ehedem und fand in seinen Unterlagen den Brief vom Oktober 1939 wieder, den er wohl nicht mehr beantwortet hatte. Er beschloß, einen Aufsatz zu schreiben, »Notizen zu einem Brief«, der zusammenfaßte, was er hätte antworten können oder wollen (siehe Schröter, 1997, S. 278f.). Eigentlich griff er nur den einen Ausdruck »Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur« auf. Zu ihm habe er sich damals die Stichworte notiert »Zusammenbruch? Verheißung!«

»Was das bedeutet, steht mir noch heute ganz klar vor Augen. Es rührt an ein Problem, das nie aufgehört hat, mich zu beschäftigen. Solange ich zurückdenken kann, haben Menschen meines Freundes- und Bekanntenkreises mit Hoffnungsfreude und Begeisterung von dem Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur gesprochen. Ich wußte, daß sie diesen Gedanken mit dem an die kommende Revolution verbanden und daß ihre Hoffnungsfreude auf einer Verheißung beruhte, die sie empfangen hatten, auf der Prophezeiung, daß dem Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft im Verlaufe der Revolution eine bessere, schönere Gesellschaftsordnung folgen werde, ohne Unterdrückung, Ausbeutung und Unmenschlichkeit.« Heute (in den 70er Jahren) benutze man den Begriff »ganz in der gleichen Weise, wie Fenichel es tat, als hoffnungsvollen Ausdruck für etwas in der näheren Zukunft Bevorstehendes«.

»Ich wünschte«, schrieb Elias auch, »ich hätte mich mit Fenichel zusammensetzen und mich mit ihm über die Fragen, die sein Brief berührt, unterhalten können. Das war damals und ist nun leider heute nicht mehr möglich.«

 

Quelle: Michael Schröter, Psychoanalyse emigriert: Zu den Rundbriefen von Otto Fenichel (mit einem Exkurs: ‘Fenichel und Norbert Elias’). Psyche (Stuttgart/BRD: Klett-Cotta), November 2000, S. 1141-1174, hier S. 1168-1169