Figuration

Der Begriff der F. unterscheidet sich dadurch von vielen anderen theor. Begriffen der Soz., daß er die Menschen ausdrücklich in die Begriffsbildung einbezieht. Er setzt sich also mit einer gewissen Entschiedenheit von einem weithin vorherrschenden Typ der Begriffsbildung ab, die sich vor allem bei der Erforschung lebloser Objekte, also im Rahmen der Physik und der an ihr orientierten Philosophie herausgebildet hat. Es gibt Konfigurationen von Sternen, auch von Pflanzen und Tieren. Menschen allein bilden miteinander F .en. Die Art ihres Zusammenlebens in kleinen und großen Gruppen ist in gewisser Hinsicht einzigartig. Es wird immer durch Wissensübertragung von einer Generation zur anderen mitbestimmt, also durch den Eintritt des einzelnen in die spezifische Symbolwelt einer schon vorhandenen F. von Menschen. Mit den vier zeiträumlichen Dimensionen unabtrennbar verbunden ist im Falle der Menschen eine fünfte, die der erlernten gesellschaftlichen Symbole. Ohne deren Aneignung, ohne z.B. das Erlernen einer bestimmten gesellschaftsspezifischen Sprache, vermögen Menschen weder sich in ihrer Welt zu orientieren, noch miteinander zu kommunizieren.

Ein heranwachsendes Menschenwesen, das keinen Zugang zu Sprach- und Wissenssymbolen einer bestimmten Menschengruppe erworben hat, bleibt außerhalb aller menschlichen F.en und ist daher nicht eigentlich ein Mensch. Das Hereinwachsen eines jungen Menschenwesens in menschliche F .en als Prozeß und Erfahrung und so auch das Erlernen eines bestimmten Schemas der Selbstregulierung im Verkehr mit Menschen ist eine unerläßliche Bedingung der Entwicklung zum Menschen. Sozialisierung und Individualisierung eines Menschen sind daher verschiedene Namen für den gleichen ProzeB. Jeder Mensch gleicht anderen Menschen und ist zugleich von allen anderen verschieden.

Soz. Theorien lassen zumeist das Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ungelöst. Wenn man davon spricht, daß Kinder durch Integration in bestimmte F.en, also etwa in Familien, Schulklassen, Dorfgemeinden oder Staaten, und so auch durch persönliche Aneignung und Verarbeitung eines gesellschaftsspezifischen Symbolschatzes zu menschlichen Individuen werden, steuert man die Gedanken zwischen den zwei großen Gefahren der soz. Theoriebildung und der Menschenwissenschaften überhaupt hindurch: zwischen der Gefahr, von einem gesell- schaftslosen Individuum, also etwa von einem ganz für sich existierenden Handelnden auszugehen, und der Gefahr, ein "System", ein "Ganzes", kurzum eine menschliche Gesellschaft zu postulieren, die gleichsam jenseits der einzelnen Menschen, jenseits der Individuen existiert. Menschliche Gesellschaften haben keinen absoluten Anfang; sie haben keine andere Substanz als von Müttern und Vätern erzeugte Menschen. Aber sie sind nicht einfach kumulative Anhäufungen solcher Personen.

Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten sozialen Unordnung, eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff der F. zum Ausdruck bringt. Kraft ihrer grundlegenden Interdependenz voneinander gruppieren sich Menschen immer in der Form spezifischer F.en. Im Unterschied von den Konfigurationen anderer Lebewesen sind diese F.en nicht gattungsmäßig, nicht biol. fixiert. Aus Dörfern können Städte werden, aus Sippen Kleinfamilien, aus Stämmen Staaten. Biol. unveränderte Menschen können veränderliche F .en bilden. Sie haben Struktureigentümlichkeiten und sind Repräsentanten einer Ordnung eigener Art und bilden dementsprechend das Untersuchungsfeld eines Wissenschaftszweiges eigener Art, der Sozialwissenschaften im allgemeinen und so auch der Soz. Die gedankliche Schwierigkeit, der man in diesem Zusammenhang oft begegnet, beruht nicht zuletzt auf zwei komplementären Grundsachverhalten.

Es lohnt sich vielleicht, sie hier in Kürze vorzustellen. Einzelne Menschen leben miteinander in bestimmten F.en. Die einzelnen Menschen wandeln sich. Die F .en, die sie miteinander bilden, wandeln sich ebenfalls. Aber die Veränderungen der einzelnen Menschen und die Veränderungen der F .en, die sie miteinander bilden, obgleich unabtrennbar und ineinander verwoben, sind Veränderungen auf verschiedener Ebene und auf verschiedene Art. Ein einzelner Mensch kann eine relative Autonomie gegenüber bestimmten F.en haben, aber allenfalls nur in Grenzfällen (etwa des Wahnsinns) von F.en überhaupt. F.en können eine relative Autonomie im Verhältnis zu bestimmten Individuen haben, die sie hier und jetzt bilden, aber niemals im Verhältnis zu Individuen überhaupt. Anders ausgedrückt: Ein einzelner Mensch kann einen Freiheitsspielraum besitzen, der es ihm ermöglicht, sich von einer bestimmten F. abzulösen und sich in eine andere einzufügen, aber ob und wie weit das möglich ist, hängt selbst von der Eigenart der betreffenden F. ab. Auch können die gleichen Personen verschiedene F.en miteinander bilden (die Passagiere vor, bei und möglicherweise nach dem Schiffbruch; bürgerliche und adlige Menschen vor, während und nach der Revolution). Umgekehrt können verschiedene Menschen mit gewissen Variationen die gleichen F.en bilden (Familien, Bürokratien, Städte, Länder).

Max Weber (1864-1920) suchte dieses zentrale Problem der Soz., das der relativen Autonomie der F.en gegenüber den sie jeweils bildenden Individuen, durch den Begriff des Idealtypus zu lösen, also durch die Annahme, daß F.en als solche gar nicht existieren, sondern nur als idealisierende Abstraktionen von weniger geordneten Häufungen individuell Handelnder und deren ausdrücklich auf andere gerichteten Handlungen. Er sah noch nicht, daß die F .en, die Menschen miteinander bilden, ebenso real sind, wie jeder dieser Menschen für sich betrachtet.

Emile Durkheim (1858-1917) sah die Realität der F.en, aber er sah sie wie etwas außerhalb der einzelnen Menschen Existierendes; er vermochte nicht, sie mit der Existenz der einzelnen Menschen in Einklang zu bringen (oder allenfalls nur durch den Begriff der Interpenetration von Individuum und Gesellschaft, der sehr deutlich die Annahme einer getrennten Existenz der beiden unabtrennbaren menschlichen Daseinsebenen zeigt). Wenn man von F .en spricht, die menschliche Individuen miteinander bilden, dann besitzt man ein Menschenbild und ein begriffliches Handwerkszeug, das wirklichkeitsgerechter ist und mit dessen Hilfe sich die traditionelle Zwickmühle der Soz.: "Hier Individuum, dort Gesellschaft", die eigentlich auf einem Spiel mit Worten oder mit Werten außerwissenschaftlicher Art beruht, vermeiden läßt.

aus: B. Schäfers (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen/BRD etc.: Leske & Budrich, S. 88-91