Prozesse, soziale
kontinuierliche, langfristige, d.h. gewöhnlich nicht weniger als drei Generationen umfassende Wandlungen der von Menschen gebildeten Figurationen oder ihrer Aspekte in einer von zwei entgegengesetzten Richtungen. Eine von ihnen hat gewöhnlich den Charakter eines Aufstiegs, die andere den eines Abstiegs. In beiden Fällen sind die Kriterien rein sachbezogen. Sie sind unabhängig davon, ob der jeweilige Betrachter sie gut oder schlecht findet. Beispiele sind: zunehmende und abnehmende Differenzierung sozialer Funktionen, Vergrößerung oder Verkleinerung des sozialen Kapitals oder des sozialen Wissensschatzes, des Spielraums der menschlichen Kontrolle über die nicht-menschliche Natur oder des Mitgefühls mit anderen Menschen, unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit.
Es gehört also zu den Eigentümlichkeiten s.r P., daß sie bipolar sind. Im Unterschied von dem biol. Prozeß der Evolution sind s. P. umkehrbar. Schübe in der einen Richtung können Schüben in der entgegengesetzten Richtung Platz machen. Beide können simultan auftreten. Einer von ihnen kann dominant werden oder dem anderen die Waage halten. So kann z.B. ein dominanter Prozeß, der auf größere Integration ausgerichtet ist, mit einer teilweisen Desintegration Hand in Hand gehen. Umgekehrt kann ein dominanter Prozeß der sozialen Desintegration, z.B. der Feudalisierung, zu einer zunächst teilweisen, dann dominanten Re-Integration auf neuer Basis führen, also etwa zu einem neuartigen Staatsbildungsprozeß. Dementsprechend gehören als begriffliche Werkzeuge zur Bestimmung und Untersuchung von s.n P.n Begriffspaare wie Integration und Desintegration, Engagement und Distanzierung, Zivilisation und Entzivilisation, Aufstieg und Abstieg. Begriffspaare dieser Art zeigen die Richtung s.r P. an. Dabei unterscheidet sich der Gebrauch dieser soz. Richtungsbegriffe in charakteristischer Weise von dem Gebrauch hist. Begriffe, die auf die Erfassung einmaliger und richtungsloser Details des vergangenen Zusammenlebens von Menschen abgestellt sind. S. P. können auf früheren und auf späteren Stufen die gleiche Richtung haben. So lassen sich etwa Distanzierungsschübe oder Schübe in der Richtung auf größere Integration und Differenzierung in der Steinzeit wie in der Neuzeit beobachten.
Längere s. P. lassen oft besonders deutlich den Durchbruch von einer Prozeßstufe zu einer anderen mit einer entschiedenen Machtverlagerung erkennen. So ging etwa der erste Industrialisierungsschub - Aufstieg zur Stufe der industriellen Maschinenproduktion und der Industriearbeiterschaft - Hand in Hand mit dem Abstieg der handwerklichen Produktion und des Handwerks als sozialer Gruppe; der zweite Industrialisierungsschub - Aufstieg zur Stufe der automatisch durch Computer, Roboter usw. gesteuerten Produktion und der zugehörigen Berufsgruppen - mit dem Abstieg der vorangehenden Fabrikproduktion und Dienstleistungsformen und mit dem der entsprechenden Berufsgruppen.
Paare gegensätzlicher Begriffe, die zur Bestimmung der Richtung s.r P. dienen, haben mehr als diese eine Funktion. Sie können zur Bestimmung von strukturellen Gegensätzen und Spannungen innerhalb einer Prozeßbewegung zu jeder gegebenen Zeit dienen. Sie sind unentbehrlich zur Bestimmung von Phasen oder Stufen eines s.n P.s. Eine spätere Phase ist gewöhnlich durch das Durchsetzen einer veränderten Gesellschaftsstruktur gekennzeichnet und insbes. durch eine entschiedene Veränderung der Machtverhältnisse zugunsten bestimmter sozialer Positionen und zuungunsten anderer (z.B. endgültige Verlagerung der zuvor fluktuierenden Machtbalance zwischen geistlichen und säkularen Zentralherren, zwischen Feudaladel und Fürsten zugunsten der letzteren in der europäischen Renaissance). Im bisherigen Entwicklungsgang der Menschheit stellt eine spätere Phase im Verhältnis zur früheren oft den Durchbruch zur entschiedenen Dominanz eines Machtzentrums dar, dessen Vertreter zuvor unentschieden mit denen anderer Machtzentren rangen.
Der Zerfall des antiken röm. Reiches kann als lehrreiches, empirisches Modell für einen sozialen Prozeß dienen, in dessen Verlauf mit wachsender Beschleunigung Desintegrations- und Entzivilisationstendenzen über Integrations- und Zivilisationstendenzen die Oberhand gewinnen. Nur durch Verkleinerung des Reiches gelang es, den von außen wie von innen gleichzeitig arbeitenden Tendenzen der zunehmenden Desintegration im Osten des Reiches für etwa ein Jahrtausend Einhalt zu gebieten. Die später im west- und mitteleuropäischen Raum wieder einsetzende Integration bietet Beispiele verschiedenster Art für langfristige Staatsbildungsprozesse und die mit ihnen aufs engste zusammenhängende Zunahme der Funktionsteilung. Sie gingen mit einer allmählichen Machtverlagerung zuungunsten zentrifugaler Menschengruppen (Feudaladel), zugunsten von Zentralherren (Territorialfürsten, Könige) und von zunächst autonomen, befestigten Städten Hand in Hand. Alles das sind Beispiele für ungeplante s. P. mit einer immanenten Dynamik spezifischer Machtkämpfe, die richtungsbestimmend sind. Sie als solche zu sehen, ist ein Beispiel für eine Synthese auf höherer Ebene als die historische. Eine soz. Theorie s.r P. muß z.B. der strukturverwandtschaft vergangener und gegenwärtiger Staatsbildungsprozesse Rechnung tragen. Sie muß z.B. auch die Staatsbildungs-P. in Betracht ziehen, die sich in jüngster Zeit besonders gut in Afrika südlich der Sahara beobachten lassen. Im Verhältnis zu zentralisierenden Stammes- und Staatshäuptern und deren Herrschaftsapparat widersetzen sich dort andere Stämme der wachsenden staatlichen Integration. Sie finden ein Gegenstück auf kontinentaler Ebene in Europa, wo der weitere Integrationsschub von der zentrifugalen nationalstaatlichen zur zentripetalen kontinentalstaatlichen Ebene hin zuungunsten der letzteren noch weitgehend in der Schwebe ist. Zu den Hauptantrieben s.r P. gehören Spannungen und Konflikte im Zusammenhang mit der Monopolisierung (durch eine Gruppe oder gegebenenfalls auch durch zwei rivalisierende Gruppen) von Mitteln der Befriedigung von sozialen Bedürfnissen anderer Gruppen, also von Machtmitteln. Beispiele sind die Monopolisierung von Produktionsmitteln, von Orientierungsmitteln, von Organisationsmitteln und von Mitteln der physischen Gewalt. Zur Zeit besitzen zwei Kontinentalstaaten (die Vereinigten Staaten und die GUS-Staaten) eine monopolartige Verfügungsgewalt über Mittel der physischen Gewalt. Die Zwickmühle des Vormachtkampfes, in die nicht nur die beiden Mächte, sondern beträchtliche Teile der Menschheit verstrickt sind, ist ein anschauliches Beispiel sowohl für den zwangartigen wie für den bipolaren Charakter s.r P. Die Gegensätzlichkeit der Richtungspotentiale zeichnet sich hier besonders deutlich ab: Möglichkeit des Abstiegs in der Richtung auf Selbstzerstörung und Desintegration, des Aufstiegs in der Richtung auf umfassendere Integration und Pazifizierung größerer Einheiten. Das ist einer der Gründe, aus denen sich der Schwerpunkt dessen, was man unter einem sozialen Prozeß versteht, in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, vor allem gegenüber dem 19. Jh., verlagert hat. Im 19. und frühen 20. Jh. beschränkte sich die Aufmerksamkeit von Soziologen beim Gebrauch dieses oder verwandter Begriffe gewöhnlich auf innerstaatliche P., also z.B. auf die Dynamik sozialer P., die mit der innerstaatlichen Monopolisierung von Produktionsmitteln zusammenhing. Zwischenstaatliche s. P. erschienen implizit als unstrukturiert, vielleicht auch als ein Problemgebiet jenseits des Forschungsbereichs der Soz. Wandlungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zeigen deutlicher als zuvor, daß diese Trennung von innerstaatlichen und zwischenstaatlichen P .n zwar wohl dem Fache, aber nicht der Sache entspricht. Die zunehmende Integration der Menschheit weist immer unzweideutiger auf die Interdependenz innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Prozesse hin. Dem entspricht es, daß sich der Aufgabenbereich der Soz. nicht auf innerstaatliche s. P., also etwa auf die Dynamik von Industrialisierungsprozessen oder sozialen Konflikten eines einzelnen Staates, beschränken läßt. P . der Staatsbildung oder des Staatszerfalls, der staatlichen und überstaatlichen Integration und Desintegration können als Beispiele für s. P. dienen, deren Struktur und Verlauf zwar die der einzelstaatlichen P. aufs stärkste beeinflußt, sich aber nicht mehr bei der Beschränkung des Blickfeldes auf sie diagnostisch bestimmen und erklären läßt.
Als Beispiel kann der mächtige Prozeß der Integration dienen, der gegenwärtig alle einzelnen Gesellschaften der Menschheit in immer engere Abhängigkeit voneinander bringt. Er verdient die Aufmerksamkeit der Soziologen. Wie im Falle vieler anderer Integrationsschübe erhöhen sich damit zunächst die Spannungen und Konflikte zwischen den Teileinheiten, die nun ungefragt und oft genug ihren Wünschen zuwider abhängiger voneinander werden. Eine Theorie s.r P. kann an P.n dieser Art, also an menschheitsumfassenden P .n nicht vorübergehen. In früheren Zeiten bezog sich der Begriff der Menschheit einmal auf. ein fernes, immer friedliches und harmonisches Idealbild. Er bezieht sich heute auf eine spannungs- und konfliktreiche Realität. In Theorie und Praxis bildet daher der s. P. der sich nun mit einiger Beschleunigung integrierenden oder sich selbst zerstörenden Menschheit den universellen Bezugsrahmen für die Untersuchung aller speziellen s.n P. Erst damit wird der Weg freigelegt für die Erörterung anderer Probleme s.r P . Ein paar Hinweise müssen hier genügen. Im Vordergrund steht oft die Frage nach der Beziehung von s.n P.n und individuellen Handlungen. S. P. und einzelne Menschen, also auch deren Handlungen, sind schlechterdings untrennbar. Aber kein Mensch ist ein Anfang. Wie das individuelle Sprechen aus einer bereits vorhandenen gesellschaftsspezifischen Sprache hervorgeht, so wachsen auch alle anderen individuellen Handlungen aus schon im Gang befindlichen sozialen P.n heraus. S. P. selbst besitzen zwar eine größere oder geringere relative Autonomie gegenüber bestimmten Handlungen einzelner Menschen (z.B. der gegenwärtige Integrationsschub der Menschheit). Aber sie sind alles andere als unabhängig von Menschen und so auch von menschlichen Handlungen überhaupt. Würden Menschen aufhören zu planen und zu handeln, dann gäbe es auch keine s.n P. mehr. Nicht im Verhältnis zu Menschen überhaupt, sondern im Verhältnis zu bestimmten einzelnen Menschen, deren Plänen und Handlungen, besitzen s. P. ein höheres oder geringeres Maß von Unabhängigkeit. Letzten Endes beruht diese relative Autonomie der P. auf dem Zusammenleben einer Vielheit von Menschen, die voneinander mehr oder weniger abhängig sind und die mit- oder gegeneinander handeln - von Menschen, die eingebettet sind in nicht-menschliche Natur. Die relative Autonomie s.r P. beruht mit anderen Worten auf dem ständigen Ineinandergreifen von Empfindungen, Gedanken und Handlungen vieler einzelner Menschen und Menschengruppen und von nicht-menschlichen Naturabläufen. Aus dieser ständigen Verflechtung ergeben sich immer wieder langfristige Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, die kein Mensch geplant und wohl auch niemand vorausgesehen hat. Einige weitere Begriffe seien hier in Kürze neu eingeführt, die für die empirische und theor. Arbeit der P. soz. von Nutzen sein mögen. Da ist z.B. der Begriff der Richtungsbeständigkeit. Obwohl ungeplant, behalten manche s. P. die gleiche Richtung für Hunderte oder selbst Tausende von Jahren, so etwa der Aufstieg von jeweils kleineren zu jeweils größeren Überlebenseinheiten oder das sich langsam beschleunigende Wachstum des menschlichen Fundus wirklichkeitsgerechter Wissenssymbole. Man kann nicht unterlassen, zur Erklärung dieser Richtungsbeständigkeit die Dynamik von Ausscheidungskämpfen heranzuziehen (N. Elias 1982, Bd. 2). Auf die Dauer bieten wohl in vielen Fällen größere Überlebenseinheiten oder umfassenderes sachgerechteres Wissen den betreffenden Menschengruppen bessere Überlebenschancen im Konkurrenzkampf der Gruppen als kleinere Einheiten oder ein beschränkterer Wissensschatz... Der Begriff der sozialen Ausscheidungskämpfe erinnert an den des Überlebenskampfes, der als Ausleseapparatur bei dem Prozeß der biol. Evolution eine entscheidende Rolle spielt. Um so frappanter ist der Unterschied zwischen dem Angriffspunkt für die Selektion durch Ausscheidungskämpfe im Falle der langfristigen biol. und der langfristigen s.n P. Im ersteren Falle wird die Kontinuität des P.s von Generation zu Generation durch Gen-Übertragung gesichert; und Gen-Mutationen, die durch Lernen unbeeinflußbar sind, bilden den Angriffspunkt für die Selektion durch Ausscheidungskämpfe.
Im Falle der s.n P. wird die Prozeßkontinuität durch die Übertragung gesellschaftsspezifischen, durch Lernen erworbenen Wissens in der Form von sozialen Symbolen, vor allem von Sprachsymbolen, vermittelt, und zwar in allen Lebensbereichen. Die intergenerationelle Kontinuität der menschlichen Überlebenseinheiten insgesamt, also auch die ihrer ökonom. oder ihrer Selbstregulierungsaspekte, bedarf einer Wissensübertragung mit Hilfe von Sprachsymbolen. Den Angriffspunkt für die Selektion durch Ausscheidungskämpfe bilden in diesem Falle nicht Gen-Innovationen, sondern Wissens-Innovationen oder das Unvermögen zu solchen Neuerungen bei veränderter Lage.
Es ist naheliegend, die sehr langsamen, aber beim Rückblick unverkennbaren Fortschritte der Werkzeug- und Waffentechnik im Laufe der Steinzeit dadurch zu erklären, daß Neuerungen des Wissens von der Waffen- und Werkzeugproduktion, die einer einzelnen Gesellschaft Vorteile in Überlebenskämpfen mit anderen Gruppen und mit der nicht-menschlichen Natur einbrachten, von anderen Gruppen übernommen wurden, die dann ebenfalls bessere Überlebenschancen hatten, während Gruppen, die sie nicht übernahmen, unterlagen und verschwanden. Beim Rückblick sehen Menschen dann häufig nur den scheinbar glatten Fortschritt der Technik, nicht die menschenverbrauchenden Ausscheidungskämpfe dahinter. Der Unterschied zwischen der durch Lernen möglichen Wissensübertragung ist auch mitverantwortlich dafür, daß die P. der biol. Evolution irreversibel, die der sozialen Entwicklung umkehrbar sind. Große Verwirrung ist dadurch entstanden, daß man der sozialen Entwicklung eine gleichsam magische Notwendigkeit des Fortschritts zugeschrieben hat. Man kann gut und gerne davon reden, daß die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung in manchen Bereichen Fortschritte gemacht hat. Sie lassen sich gewöhti1ic.h aufgrund von handfesten Kriterien nachweisen. Die Vorstellung eines allseitigen Fortschritts dagegen ist ein Mythos, besonders wenn sich damit das Bild eines Endzustands der sozialen Entwicklung verbindet. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten s.r P., daß sie wohl Richtungen haben, aber, wie die Natur, weder Zweck noch Ziel. Diese können Menschen möglicherweise erreichen, falls sie sich einmal als Menschheit über sie einig werden.
aus: B. Schäfers (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen/BRD etc.: Leske & Budrich, S. 234-241